Wir leben in politisch angespannten Zeiten. Da kann man sich, wenn man diese der Philosophie widmet, schonmal fragen, ob die eigene Tätigkeit hierfür eigentlich mehr Relevanz hat als etwa das „Binge-Watching“ von TV-Serien – und ob man nicht besser an die frische Luft gehen, seine Zeit mit seinen Nächsten verbringen oder sich doch tatsächlich mal politisch engagieren sollte. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ [1], meinte ja Karl Marx.
Tappen im Dunkeln
Gehe ich bei diesen Fragestellungen mit der Philosophie zu hart ins Gericht? Nun, es kann ja nicht schaden, zunächst einmal alles in Frage zu stellen – auch, wenn diese Infragestellung selbst wieder Philosophie ist. Ich bin es definitiv Leid, selbstgefällige Sätze zu hören wie den, dass die Welt besser wäre, wenn es nur mehr Philosophen gäbe, oder wenn doch nur mehr Menschen philosophisch nachdenken würden. Was ist, ist. Eine nur aus Philosophen bestehende Gesellschaft würde außerdem nicht funktionieren. Philosophie ist ein Kulturprodukt, welches Arbeitsteilung zur Voraussetzung hat. Wer über die „Dummheit der Menschen“ schimpft, hat nicht verstanden, wie die Welt funktioniert – und ist in diesem Sinne selber der Dumme.
Anders als bei der Religion ist bei der Philosophie auch nie gewiss, ob sie den Menschen innere Kraft oder Orientierung in der Welt geben kann. Wo sich die religiöse Hingabe als „Passion“ der weltlichen, politischen „Aktion“ noch als Komplement gegenüberstellen ließe, bleibt der Status der Philosophie hier unklar. Wo Philosophie aufhört, zu fragen, hört sie auch auf, Philosophie zu sein. Eine reine „Lebensphilosophie“, die Menschsein vor allem als Praxis begreift, hebt sich schließlich selbst auf in der Feststellung, dass ja alles individuell sei. Philosophie liefert so weder einen festen Daseinsgrund noch einen verlässlichen Kompass. Sie bleibt ewige Suche und Tappen im Dunkeln.
Marxens These
Doch betrachten wir einmal genauer den Ausspruch Marxens, wobei ich mich in weiten Teilen auf eine Analyse von Volker Gerhardt stütze (was ich nicht immer kennzeichnen werde). Zunächst ist festzuhalten, dass die Infragestellung, die Marx mit diesem Satz vollzieht, sich von der hier vollzogenen zu unterscheiden beansprucht: Wie gesagt ist dieser Beitrag zweifelsohne philosophisch, und zwar im „interpretierenden“ statt im „verändernden“ Sinne. Dich, lieber Leser, werde ich mit diesem Beitrag vielleicht zum Nachdenken und Philosophieren bringen, aber das wird es dann auch schon wieder gewesen sein.
Was Marx in Frage stellt, sind ja nicht Interpretationen der Welt, sondern die Tätigkeit des Interpretierens selbst, von welcher bestimmte Interpretationen, Weltbilder, Ideologien nur die Resultate darstellen. In ihrem Wesen als Interpretation sind sich all diese Resultate, all diese „Ismen“ („Empirismus“, „Rationalismus“, „Realismus“, „Nominalismus“, „Idealismus“, „Materialismus“ etc. pp.) ja völlig gleich, wie aber – das sollte hierbei nicht vergessen werden – auch sämtliche politischen Parteien in ihrem Wesen als Partei gleich sind.
Nun ist unschwer zu erkennen, dass auch Politiker und Aktivisten in ihrem Handeln von weltanschaulichen Prämissen ausgehen. Gefragt ist ja nicht irgendeine Veränderung der Welt – etwa das spontane Abwerfen von einem halben Dutzend Atombomben über China oder die sofortige Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von einer Milliarde Euro pro Kopf – sondern bestimmte Veränderungen, die zumindest ein Ziel vor Augen haben sollen. Die Prämissen, auf denen politische Weltanschauungen und Zielsetzungen ruhen, lassen sich philosophisch natürlich analysieren und sezieren, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Das gilt insbesondere für den Marxismus, dessen historische Entwicklung diesen keineswegs als ideologiefrei, „politisch neutral“ oder ähnliches erscheinen lässt. Doch darum geht es Marx offenbar nicht.
Ich denke, Marx kritisiert vor allem das passive Dasein der Philosophen, welches sich – wie bereits angedeutet – unter einem passenden Blickwinkel nicht von dem des klassischen Stubenhockers oder Kellerkindes zu unterscheiden scheint. Man sitzt, weitgehend regungslos, herum. Allerdings ist dieses Phänomen heute auch in der Arbeitswelt verbreitet. Es geht einher mit der „Dematerialisierung“ der Arbeit. Wie aktuell kann Marx‘ Kritik also noch sein? Und war sie jemals aktuell? Wie müsste man seine „elfte Feuerbachthese“, wie sie auch genannt wird, umformulieren, damit sie annehmbar erscheint?
Wodurch sich die Philosophie von allen anderen nicht-materiellen Tätigkeiten unterscheidet, ist vielleicht ihre mögliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: der Anspruch, die Welt erkennen und interpretieren zu können im Vergleich zur Wirklichkeit, in der Philosophie nicht viel zu bewirken scheint. Allerdings ist das nicht, was Marx anprangert. Marx prangert ja keine Diskrepanz im Wesen der Philosophie an, sondern stellt den kategorischen Imperativ auf, dass das, worauf es allgemein ankomme, das oberste Gebot moralischen Handelns, die Veränderung der Welt sei – die Philosophie kritisiert er gleichsam erst später, und zwar damit, dass sie diesem universellen Anspruch an alles menschliche Dasein nicht gerecht werde. Marx spricht so aus einer reinen Revolutionsgesinnung heraus und aus einem pathologisch wirkenden Pragmatismus: Pathologisch wird Pragmatismus nämlich dann, wenn der Fokus auf die Praxis und das „Machen“ dazu dient, die eigenen theoretischen Voraussetzungen und Wertungen, die eigenen Interpretationen zu verschleiern. Nach einer längeren Analyse unter Einbeziehung von Marxens übrigem Denken meint auch Gerhardt, dass die These eigentlich nur in der Formulierung „Es kommt darauf an, wirksam zu sein“ [2] Sinn ergibt. Als solche ließe sie sich in eine lange Reihe von philosophischen Behauptungen darüber, worauf es im Leben ankomme, einreihen.
Gerhardt findet durchaus scharfe Worte gegen Marx, besänftigt aber damit, dass dessen These erstens gar nicht als philosophische, sondern als politische These zu verstehen sei (und es in der Politik am Ende eben aufs Handeln ankomme) und zweitens, dass sie auch biografisch gelesen werden könne, als Abschied Marxens von der stagnierenden Philosophie seiner Zeit. Letztlich richtet sich Gerhards Kritik daher weniger gegen Marx als – wieder – gegen die zeitgenössische Philosophie, also die heute aktuelle Philosophie, wenn diese ihre Zeit und Energie darauf verwendet, die These zu lesen und zu interpretieren, als ob sie ein philosophisches Motto sei: „[S]o enthält denn sein berühmter Spruch eine unleugbare politische Wahrheit, die für den Theoretiker immer etwas Irritierendes und Provozierendes hat“ [3].
Wu wei
Doch will man, indem man philosophiert, sich mit Philosophie befasst, nicht auch irgendwie wirksam sein? Und soll sich diese Wirkung nicht auch jenseits des staatlichen oder privaten Elfenbeinturms ereignen (anders als beim Schauen von TV-Serien)? Unabhängig davon, ob man bewusst darauf abzielt oder nicht: Wirkt Philosophie? Und wenn ja, wie?
Sowohl Politik als auch Philosophie – und der Marxismus im Besonderen – sind, so denke ich, hier von einem spezifisch westlichen, und zwar mechanistischen Verständnis von Ursache und Wirkung geprägt. Demnach müsse sich zu jeder Wirkung eine eindeutige Ursache ausmachen lassen, und eben nur solche Handlungen seien sinnvoll, die als Ursachen absehbare Wirkungen zeitigen werden. Die „Wirklichkeit“ ist jedoch komplexer als das.
Diametral gegenüber steht dieser Vorstellung das Wu wei aus dem chinesischen Daoismus. „Wu wei“ bedeutet so viel wie „Wirken durch Nicht-handeln“, ein „stilles Wirken“ gleichsam, ein langsames und leises Wirken, welches zwar keine kurzzeitigen Erfolge erzielen mag, aber dafür als steter Tropfen den Stein höhlt oder leuchtet wie die Flamme, die umso länger glimmt, je weniger sie brennt: ein Glimmen, kein Scheinen. Wu wei ist auch ein halb- und vorbewusstes Wirken, bei welchem der Wirkende selbst nur intuitiv begreift, was er tut. Laotse schreibt im Daodejing über den „Berufenen“:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen. [4]
Ich denke, dass sich aus dieser Perspektive der Philosophie auch ein Wirken zuschreiben lässt. Gleichwohl bleibt sie nicht neutral gegenüber den Inhalten philosophischen Denkens. Die Möglichkeit, die Welt in Form von Lehrsätzen erkennen und fixieren zu können, leugnet der Daoismus und entspricht insofern auch Marxens – echter oder vorgegaukelter – Skepsis gegenüber „Interpretationen“ der Welt. Der Daoismus denkt „im Fluss“ wie Heraklit.
Nun soll das aber nicht heißen, dass alle Philosophen jetzt zu Daoisten werden müssen. Der Daoismus dient hier ja nur als Beispiel, gleichsam zur Widerlegung der Behauptung, Philosophie sei per se wirkungslos. Ob man eher zum Philosophen oder zum Politiker (oder Aktivisten) wird, ist dabei sicher auch eine Frage der Persönlichkeit, bei welcher ich darauf wetten würde, dass Philosophen tendenziell introvertierter, Politiker hingegen extrovertierter sind. Ebenso wenig, wie man einen Politiker zu einer philosophischen Tiefenreflexion zwingen kann, kann und sollte man von einem Philosophen verlangen, eine restlos eindeutige politische Position zu ergreifen, weil diese sich philosophisch leicht als Sackgasse erweisen kann. Ähnlichkeiten zu Wu wei lassen sich dabei auch im politischen Aktivismus finden, und zwar im gewaltfreien Widerstand, wenn dieser nicht aus bloßem Kalkül heraus geübt wird, auch nicht ausschließlich aus festgelegten moralischen Prinzipien – sondern aus einem tiefen Bewusstsein, dass menschliche Gewalt als Mittel hier absurd wäre, und dass der konsequente Verzicht auf sie vielleicht ermöglicht, zur Naturgewalt anzuschwellen.
Quellenverzeichnis
[1] Volker Gerhardt: „Eine politische These, kein philosophischer Satz: Über die 11. These ,ad Feuerbachʻ von Karl Marx“. In: Volker Gerhardt (Hrsg.). Eine angeschlagene These: Die 11. Feuerbach-These von Karl Marx im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin. Akademie, Berlin 1996, S. 13
[2] Ebd., S. 21
[3] Ebd., S. 27
[4] Laotse, Richard Wilhelm (Übers.). Tao Te King: Das Buch vom Sinn und Leben. Hugendubel, Kreuzlingen/München 2008, S. 42