Die begriffliche Aushöhlung der Demokratie

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, zugleich aber auch kein Selbstzweck. Es trifft sich eben, dass die deutsche und europäische Gesellschaft von heute sich als „demokratisch“ versteht – aber nur, weil wir in eine demokratische Gesellschaft hineingeboren wurden, müssen wir sie nicht rückhaltlos als die beste aller möglichen Welten bejahen.

Mit anderen Worten: Neuankömmlinge auf dieser Welt werden nicht gefragt, ob sie mit der Verfassung, deren Befolgung schließlich von ihnen erwartet wird, überhaupt einverstanden sind. Die Verfassung, so demokratisch sie auch ausgerichtet sein mag, wird ihnen auf undemokratische Weise aufgenötigt. Ob etwas „verfassungsgemäß“ oder „verfassungswidrig“ ist, ist zunächst nur eine juristische, höchstens über Umwege eine moralische Frage. Wer diese logische Schwierigkeit nicht sieht, aber trotzdem die Demokratie um jeden Preis verteidigt, hätte dasselbe vermutlich mit der Monarchie gemacht, wenn er in einer solchen aufgewachsen wäre: Er identifiziert sich eben mit seiner Zeit und seinem Umfeld, was bei Menschen hinreichend einfältigen Gemüts auch nicht weiter schlimm sein muss.

Trotz – oder gerade wegen – dieser inneren Distanz reagiere ich allergisch auf die meisten Entwicklungen, die mir demokratiegefährdend erscheinen. Denn diese scheinen oft auf eine verkürzende Interpretation der Geschehnisse hinauszulaufen, also bewusst oder unbewusst Strategien anzupeilen, die ebenso einfach wie weltfremd und realitätsfern ausfallen. Da bevorzuge ich im Zweifelsfall dann doch das bestehende System.

Ich habe den Eindruck, dass sich in der Pandemie eine neue Tendenz zeigt, welche die Demokratie gefährden könnte: die Aushöhlung des Demokratiebegriffs selbst. Der Demokratiebegriff wird ausgehöhlt, indem er zur Beliebigkeit verkommt – und die Demokratie verschwindet, indem sie sinnlos wird. Dies geschieht, indem verschiedene, sich mithin polar gegenüberstehende Parteien der jeweils anderen Seite vorwerfen, demokratiefeindlich eingestellt zu sein. Politische Gegner werden pauschal als „anti-demokratisch“ gebrandmarkt, was sicher nicht nur aus Denkfaulheit heraus geschieht, sondern auch aus einer tiefen Verunsicherung betreffs der eigenen Position.

Es ist offensichtlich, dass die Corona-Maßnahmen einen starken anti-demokratischen Beigeschmack haben. Verfassungsrechtlich mögen sie im grünen Bereich liegen oder nicht; de facto werden die Maßnahmen von oben herab beschlossen, es handelt sich um eine Ausnahmesituation, die nun schon beunruhigend lange andauert. Daher finde ich es bedenklich, wenn Menschen, die für Freiheit, Mitbestimmung und Meinungsvielfalt auf die Straße gehen, als anti-demokratisch abgestempelt werden: Nennt sie dumm, nennt sie ignorant, nennt sie egoistisch, nennt sie die Verlierer des Ausleseprozesses oder Anwärter auf den Darwin Award, nennt sie antisemitisch oder rassistisch, wenn sie das sind – aber nennt sie nicht „anti-demokratisch“, wenn ihr zugleich diejenigen seid, die sich mit Freiheitsbeschränkungen identifizieren, welche von der amtierenden Regierung als alternativlos propagiert werden.

Anti-demokratisch ist es vielmehr, den Demokratiebegriff nicht mehr sachbezogen zu verwenden. Demokratie ist eine Form gesellschaftlicher Organisation. Sie bezieht sich nicht auf deren Inhalt. Nationalismus, sogar Rechtsextremismus kann in der Theorie durchaus demokratisch sein. Rassismus, sogar Völkermord kann demokratisch sein, solange die mordende Gruppe in der Überzahl und damit „demokratisch legitimiert“ ist. Deswegen muss man den Völkermord nicht gut finden. Wenn ich auf einen Legostein trete, ärgere ich mich auch nicht darüber, dass Legosteine so schlecht schmecken, sondern dass sie so hart sind und auf dem Boden herumliegen: Legosteine haben verschiedene Eigenschaften, die mich an ihnen stören können, aber nichtsdestotrotz sollte mein Ärger auf die jeweilige Ursache und damit auf einen konkreten Sachverhalt bezogen bleiben.

Anti-demokratisch wirkt vielmehr der Gestus der Alternativlosigkeit, die Abgabe jedweder Verantwortung an wissenschaftliche Experten, welche sich ihrerseits wieder an standardisierte Messverfahren überantworten. Der Gott, dem allgemein gehuldigt wird, ist dann bestenfalls die Wahrscheinlichkeitsrechnung, schlimmstenfalls aber allzu Menschliches, welches nach außen hin als Statistik verkauft wird. Politische Entscheidungen müssen zumeist eine Vielzahl von Werten gegeneinander abwägen und berücksichtigen. Die Gesellschaft ist kein Labor, in welchem sich mal eben ein einzelner Parameter kalibrieren lässt. Wenn es in der Corona-Pandemie schon so scheinen muss, als sei deren Eindämmung „alles, worauf es jetzt ankommt“, so würde es weitaus weniger demokratiegefährdend wirken, wenn man wenigstens den anti-demokratischen (da technokratischen) Beigeschmack dieser Handlungsweise offen zugestehen würde. Dann wüssten Leute wie ich zumindest, dass diese Menschen die Demokratie aufgrund der Notlage zeitweise aussetzen oder relativieren, dass es sich gerade deshalb aber für sie um einen sinnerfüllten Begriff handeln muss, dass also die Demokratie noch als solche gewürdigt wird und nur zeitweise in den Hintergrund tritt. Diesen differenzierten – und dadurch als souverän erkennbaren – Umgang mit der Begrifflichkeit sehe ich aktuell nicht.

Anti-demokratisch war andererseits aber auch die Weigerung von Donald Trump, das Wahlergebnis anzuerkennen. Das ist eindeutig und hier zweifelsohne festzuhalten. Es mag also durchaus nicht nur rassistische oder nationalistische, sondern auch anti-demokratische Tendenzen „auf der rechten Seite“ geben. Das muss für eine ausgeglichene Betrachtung ebenso anerkannt werden. Nur sind diese Tendenzen nicht so leicht erkennbar, sie sind jedenfalls weit weniger offensichtlich als entsprechende Tendenzen im Umgang mit der Pandemie. Wie gesagt muss zwischen Nationalismus/Rassismus/Antisemitismus einerseits und Demokratiefeindlichkeit andererseits unterschieden werden. Hierbei handelt es sich zumindest in der Theorie um zwei verschiedene Dinge.

Der Auslöser für diesen Beitrag war meine Begegnung mit dem Buch Fehlender Mindestabstand: Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde, welches im April im Herder-Verlag erschien. Herausgegeben von den Journalisten Heike Kleffner und Matthias Meisner handelt es sich um eine Textsammlung, zu der verschiedene Journalistinnen, Sozialwissenschaftler und Medizinerinnen beigetragen haben. Das Vorwort stammt aus der Feder von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Wie gesagt will ich etwaigen Antisemitismus nicht verharmlosen, sondern zur Differenzierung zwischen Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit mahnen. Ich habe nur in die frei zugänglichen Leseproben hineingelesen, aber dort erkenne ich bereits Muster wieder, die mir allzu vertraut sind.

Das Muster besteht darin, eine „lautstarke Minderheit“ an den Pranger zu stellen, da diese den Zusammenhalt der solidarischen Mehrheit gefährdet, aber zugleich ja erstens nur eine Minderheit ist, zweitens Un- oder Halbwahrheiten verkündet und drittens unmoralisch ist. Insofern setzt sich der Band für ein starkes „Wir“ in der Mitte der Gesellschaft ein. Als vergleichbares Beispiel sei hier der Agrarwissenschaftler Norman Borlaug zitiert, der für seine Beiträge zur Industrialisierung der Landwirtschaft den Friedensnobelpreis erhielt und gegen „Ökos“ wetterte:

Extremistische Umwelt-Elitisten scheinen alles in ihrem Vermögen Stehende zu tun, um den wissenschaftlichen Fortschritt zu behindern. Kleine wohlhabende lautstarke wissenschaftsfeindliche Gruppen bedrohen die Entwicklung und Anwendung neuer Technologie.

Übers. n. Norman Borlaug (2000): „Ending World Hunger: The Promise of Biotechnology and the Threat of Anti-Science Zealotry“. In: Plant Physiol 124: 487-490, S. 490

Das Problem ist: Ein solches „Wir“, ein Inneres der Gesellschaft, kann es nur dann geben, wenn es auch ein „Die“ oder „Das“ gibt, ein zugehöriges Äußeres. „Solidarität“ heißt dann, einen gemeinsamen Feind zu haben: „Wir gegen Corona“. Hinsichtlich des Klimawandels wird dies zum Beispiel bei dem Psychotherapeuten Fabian Chmielewiski deutlich, der 2019 ganz unverblühmt äußerte:

In Verbindung mit einem Narrativ des Zusammenschlusses aller Völker gegen einen gemeinsamen Feind – populär in Hollywood-Blockbustern wie „Independence Day“ und „Pacific Rim“, in denen Menschen sich aufgrund von Alien-Invasionen weltweit zusammenschließen müssen – könnte die Abwendung der ökologischen Katastrophe zu einem internationalen Projekt werden, das das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigen kann.

Fabian Chmielewski: „Die Verleugnung der Apokalypse – der Umgang mit der Klimakrise aus der Perspektive der Existenziellen Psychotherapie“. In: Psychotherapeutenjournal 2019(3): 253-260, S. 259

Darüber hinausgehend gibt sich der prominente Klimaforscher Mojib Latif nicht mit „Zugehörigkeit“ des Ich zum Wir zufrieden, für ihn ist bereits dessen „Unterordnung“ erforderlich:

Netto null bedeutet, dass alle anthropogenen Emissionen in die Atmosphäre durch gleich große Senken kompensiert werden müssen. Dieses ambitionierte Ziel wird nur dann zu erreichen sein, wenn sich Einzelinteressen dem Gemeinwohl unterordnen, auf der persönlichen Ebene, auf der Ebene der Unternehmen und auf der zwischenstaatlichen Ebene.

Mojib Latif (2020). Heißzeit: Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten. Herder, Freiburg/Basel/Wien, S. 29

Wo Latif beim Klimawandel von „netto null“ spricht, ist in der Pandemie von „Zero Covid“ die Rede: Der Krieg ist erst dann gewonnen, wenn der Feind restlos vernichet ist. Auch Borlaug sprach bei seiner Nobelpreisrede ironischerweise vom „Krieg des Menschen gegen den Hunger“. Noch deutlicher als bei „der Pandemie“ ist bei „dem Klimawandel“, dass „der Feind“ nirgendwo einsam in der Landschaft herumsteht, sodass eine Heckenschützin ihn bequem noch vor der Mittagspause erschießen könnte. Die an der komplexen Realität vorbeizielende Verdinglichung des Feindes macht es erforderlich, einen Ersatzfeind zu suchen, auf welchen sich dann mit dem Finger zeigen lässt. Und so müssen als Aliens im Fadenkreuz schließlich politische Gegner herhalten, gegeben durch diejenigen, welche Zusammenhalt, Integrität und Legitimation des „großen Wir“ in Frage stellen.

Gut, wir sind noch nicht so weit, dass diese buchstäblich erschossen werden, die Raumschiffe aus Independence Day und die Riesenroboter aus Pacific Rim stehen dafür auch noch nicht zur Verfügung. Doch die Dynamik ist da. Der Buchtitel macht deutlich, dass das Außen hier vor allem durch „rechts“ gegeben ist, wie ein Blick auf die aktuelle deutsche Parteienlandschaft bestätigt, in welcher nämlich die AfD als Enfant terrible gilt (und sich durchaus selbst als solches versteht). Wer sich ständig vergewissern muss, dass er einen „Mindestabstand nach rechts“ einhält – wie der Buchtitel zu verstehen ist –, der pflegt zum rechten Spektrum kein souveränes, sondern ein neurotisches Verhältnis. Seine eigene Identität beruht dann auf der Ausgrenzung der Rechten, ohne die Rechten wäre er ein Nichts. In diesem Sinne ist es die AfD, die die relative Geschlossenheit und Harmonie unter den übrigen Parteien gewährleistet: „Wir sind, was die AfD nicht ist“. Die auf das NS-Regime bezogene Erinnerungskultur ließe sich unter diesem Gesichtspunkt überhaupt neu untersuchen und bewerten. Das „Wir gegen Corona“ gäbe es nicht, wenn es nicht „die Anderen“ gäbe, die aus der Reihe tanzen und sich weigern, mitzumachen. Indem sie die Spielregeln der vor sich gehenden Machtspiele brechen, machen sie die Regeln und mit den Regeln das Spiel sichtbar. Das passt nicht nur denen nicht, die gerade die Oberhand haben, sondern überhaupt allen, die diese Spielereien allzu ernst, für bare Münze, für die Realität selbst nehmen (die Corona-Pandemie muss deswegen keine Spielerei sein, aber die Machtdynamiken, welche mit ihr einhergehen, sind es).

Die AfD bietet allerdings auch keine Lösungen an, und den Querdenkern scheint zumeist nichts besseres als „Hauptsache dagegen“ einzufallen. Das Verletzen von Normen wird so zu einem neuen, übergeordneten Spiel, dessen Regeln nun darin bestehen, dass die „Wir“-Partei für die Regeln des alten Spiels einsteht, während die „Quer“-Partei die Aufgabe hat, dessen Regeln zu brechen. Gegenüber diesem Spiel sind beide Parteien blind. Und so mache ich mir weiterhin Sorgen, dass wir auf dem Weg in die Technokratie sind: Denn wo der Ausnahme- zum Normalzustand wird (nach Corona dann in Form des Klimas oder einer neuen Bedrohung), wo „die Wissenschaft“ uns über die Alternativlosigkeit der Sachzwänge unterrichtet, bleibt für demokratische Entscheidungsprozesse immer weniger Spielraum, bis vielleicht Demokratie selbst als „wissenschaftsfeindlich“ gilt.

3 Gedanken zu “Die begriffliche Aushöhlung der Demokratie

  1. „Anti-demokratisch wirkt vielmehr der Gestus der Alternativlosigkeit, die Abgabe jedweder Verantwortung an wissenschaftliche Experten, welche sich ihrerseits wieder an standardisierte Messverfahren überantworten.“

    Es ist nicht wahr, dass die Politik durchweg so agiert hätte! Ganz im Gegenteil wird den politisch Verantwortlichen massenhaft vorgeworfen, der Wissenschaft NICHT GENUG zu folgen, sondern z.B. ständig die Interessen der Wirtschaft zu berücksichtigen, koste es, was es wolle.

    (Wenn man den Twitter-Button zum Kommentieren nutzen will, kommt „the link you folow has expired“ – sehr seltsam!)

    Gefällt 1 Person

    • Das stimmt, da hätte ich vielleicht differenzierter drauf eingehen können: Ich halte mittlerweile Wissenschaft in ihrer sozialen Bedeutung selbst für einen Teil des Problems, weshalb es meiner Meinung nach nur bedingt ein Gewinn wäre, wenn „die Politik“ mehr auf „die Wissenschaft“ gehört hätte. Das Problem ist, dass das Individuum schleichend entmündigt wird, indem es zum sinnlos herumschwirrenden „Subjekt“ reduziert wird, welches sich nach der „objektiven Realität“ zu richten hat, die allein den wissenschaftlichen Experten überhaupt zugänglich ist. Der verwaltete Mensch – das ist das Dilemma der Technokratie. Bei Corona wird das besonders deutlich durch den Umstand, dass die Bedrohung selbst nur unter dem Mikroskop erkennbar ist und für die Laiin völlig unsichtbar bleibt. Insofern setzt sämtliche Corona-Politik, die davon ausgeht, dass ein für Normalsterbliche unsichtbares Teilchen die Bedrohung darstellt, die Orientierung an der Wissenschaft bereits voraus: also sie *tut* zumindest so, sie behilft sich mit einem entsprechenden *Gestus*, ob sie sich dann tatsächlich im Detail an den Expertenmeinungen orientiert, ist vor *diesem* Hintergrund sekundär. Ich will damit nicht abstreiten, dass stärkere echte Orientierung an Expertenmeinungen auch zu einer effizienteren Eindämmung der Pandemie führen würde – mir geht es um die schleichenden Dynamiken und Prozesse, die das Ganze begleiten…

      Vgl. einmal das Video ab 1:28 als Anschauungsmaterial (Rede der Bundeskanzlerin, 09.12.2020, Wagenknechts Kommentare sind teils treffend, aber können nichtsdestotrotz ignoriert werden): https://www.youtube.com/watch?v=UDGl7rCLrVI

      (Was das mit Twitter auf sich hat, weiß ich leider nicht! Danke, dass du dir trotzdem die Mühe gemacht hast!)

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  2. Pingback: Slavoj Žižek über die „Ode an die Freude“ | Bengt Früchtenicht

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