Dass der Mensch letztlich selbst ein Tier unter vielen sei, wird in zeitgenössischen Debatten um Tierethik gerne hervorgehoben. Man meint damit, das alte Narrativ vom Menschen nicht nur als Krone, sondern als König der Schöpfung, als Herrscher über die Natur zu überwinden. Doch so einfach verhält sich das nicht.
Als Vertreter des Paradigmas, der Mensch könne – und solle – souverän über die Natur herrschen, wird oft René Descartes angeführt. Descartes hielt den Körper im Wesentlichen für eine Art Maschine, sprach dem Menschen aber einen vom Körper unabhängigen Geist zu, der seine wahre Essenz ausmache. Tiere hingegen seien nichts als Maschinen und deswegen auch empfindungsunfähig. Wenn ich ein Tier quäle, mag es sich ähnlich verhalten wie ein gefolterter Mensch, aber im Unterschied zu diesem dabei nicht wirklich Schmerz verspüren. Tiere sind Objekte.
Diesen Dualismus vertritt heute kaum noch jemand, aber das Interessante dabei ist, dass keine Einigkeit darüber herrscht, was sein entscheidendes Problem darstellt, und es ist zumindest diese Uneinigkeit, in welcher Descartes‘ Erbe fortlebt. Ich kann diesbezüglich hier keine umfassende Darstellung vornehmen. Stattdessen wollen wir uns ansehen, wie die Verhältnisse von der Warte des Materialismus aus erscheinen, also der verbreiteten Vorstellung, dass im Letzten und Eigentlichen nur die „Materie“ wirklich sei, dass dem Geist keine eigenständige Existenz zugeschrieben werden könne, der Materie – dem Körperlichen, dem Gehirn und Nervensystem – jedoch schon.
Im Materialismus gibt es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Tier und Mensch. Beide sind Teil der Natur. Die Natur macht, was sie macht und hat im Laufe der Evolution die verschiedenen Lebensformen hervorgebracht. Daher sieht durch die Brille des Materialismus zunächst alles ganz „egalitär“ aus: Anzustreben wäre demnach eine wie auch immer geartete „Gleichstellung“ von Mensch und Tier, zumindest als utopisches Ideal. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
Doch sehen wir uns einmal näher an, wie im Materialismus diese Gleichstellung zustandekommt: Ausgehend vom cartesischen Dualismus geschieht sie nicht dadurch, dass Tiere aufgewertet werden, indem auch ihnen Empfindungsvermögen zugesprochen wird, sondern vielmehr dadurch, dass der Mensch nun ebenfalls zum bloßen Körper, zu einem Haufen von Atomen abgewertet wird. In diesem Sinne handelt es sich um eine „Gleichstellung nach unten“: Die Gleichstellung wird nicht dadurch erreicht, dass nun eine Partei besser behandelt wird oder mehr gilt als zuvor, sondern stattdessen gelten nun beide gleich wenig. Nun sind nicht mehr nur Tiere, sondern auch Menschen bloße Objekte.
Ein spitzfindiger Materialist könnte darauf mit der Aussage reagieren, dass es in der Ethik nicht um absolute, sondern nur um relative Maßstäbe gehe, sodass es keinen Unterschied macht, ob Gleichstellung nach oben oder nach unten erfolgt. Die Situation wird allerdings komplexer, wenn es noch weitere Parteien geben sollte. In der Natur gibt es ja nicht nur Tiere und Menschen. Es gibt auch Pflanzen und zum Beispiel Steine oder heiße Luft. In letzter Konsequenz würde der materialistische Ansatz dazu führen, dass auch Steine und heiße Luft auf der gleichen ethischen Ebene stehen müssen wie Tiere und Menschen. Würde man hiergegen das Argument ins Feld führen, dass Steine kein Empfindungsvermögen haben, so entspräche das ja wieder einem Dualismus von Körper und Geist, würde also den Dualismus voraussetzen und daher nicht zum Materialismus passen. Im Vergleich zu Descartes hätte man die Grenze zwischen Körper und Geist zwar verschoben, aber nicht überwunden.
Außerdem können wir nach den psychologischen Ursachen dafür fragen, wenn Tiere uns – zumindest per Lippenbekenntnis – eher als gleichrangig mit uns erscheinen mögen als zu Descartes‘ Zeiten, zumal in einem materialistischen Paradigma. Wenn im Materialismus alles letztlich als Objekt erscheint, wer oder was ist dann das zugehörige Subjekt? Anders gefragt: Wer oder was ist aus Descartes‘ Geist geworden, den er per cogito ergo sum, „ich denke also bin ich“, noch seine eigene Subjektivität bekennen ließ? Eine Möglichkeit besteht hier vielleicht darin, dass wir uns in einem höheren Maße als früher als Zahnräder in einer großen Maschine fühlen. Ein beliebter Topos zeitgenössischer Technikkritik besagt, dass die Technik nicht oder nicht nur ein Mittel des Menschen zur Beherrschung der Natur und zur Erlangung der Freiheit sei, sondern dass sie in ihrer heutigen Form auch den Menschen selbst beherrsche und seiner Freiheit beraube, wie es sich in seiner zunehmenden Abhängigkeit von den Maschinen, die er selbst gebaut hat, offenbart. „Plötzlich zeigen wir nie gekanntes Interesse am Schicksal sogenannter niederer Lebensformen, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass wir selbst kurz davorstehen, eine solche zu werden“1, schreibt etwa Yuval Harari. Harari bezieht dies hier auf die Möglichkeit einer künstlichen Intelligenz, die den Menschen hinsichtlich seiner Fähigkeiten übertrifft.
Darüber hinaus beschäftigt mich das Thema, weil ich den Materialismus, der ja außerordentlich verbreitet ist, schlicht für falsch halte. Über das Verhältnis von Mensch und Tier denke ich, dass es, wenn schon nicht fundamentale, so doch zumindest große Unterschiede gibt. Ich will damit nicht die schlechte Behandlung von Tieren rechtfertigen, sondern vielmehr versuchen, sowohl Mensch und Tier gerecht zu werden, indem sie ihrem eigenen Wesen gemäß, also „artgerecht“ erkannt und anerkannt werden. Bekanntlich trägt auch eine übermäßige „Vermenschlichung“ von Tieren nicht immer zu deren Wohl bei.
1 Yuval Noah Harari. Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen. Beck, München 2018, S. 158 f.