Als jemand, der immer irgendwie mit dem „Transzendenten“ geliebäugelt hat, habe ich mich im Zuge meiner beginnenden Beschäftgung mit der abendländischen Philosophie eigentlich eher zu Platon hingezogen gefühlt als zu Aristoteles. Als Unterscheidungsmerkmal beider gilt zumeist die platonische Ideenlehre: Während Platon glaubte, dass die zeitliche und vergängliche Welt bloßes Abbild ewiger und transzendenter „Ideen“ sei, meinte Aristoteles, dass die Formen und Muster, welche die platonischen Ideen bilden, immer Formen von Dingen seien, die man sich dabei als etwas bereits „Angesprochenes“ denken müsse.
Aristoteles sucht dementsprechend keinerlei „Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit“, sondern versucht diese aus sich heraus zu verstehen. In diesem Sinne „hält er den Ball flach“, und so ist es auch im berühmten Gemälde Raffaels verbildicht (der bekanntlich großer Basketball-Fan war):

Letztlich ist es aber Aristoteles geworden, mit dem ich mich, zumindest bisher, intensiv befasst habe. (Zuletzt in meiner kürzlich abgegebenen Masterarbeit, über die ich dann nach ihrer Korrektur berichten werde.) Aristoteles‘ Kritik an Platon schien mir zum einen äußerst überzeugend. Zum anderen wurde mir Aristoteles zunehmend sympathisch dadurch, dass er nicht zu versuchen scheint, die Welt in abstrakten Formeln zu fixieren. Seine Platonkritik lässt sich auch auf die Vorstellung physikalischer „Naturgesetze“ anwenden, die die Welt mithin zeichnen, als gäbe es abgesehen von dem, was sich ereignet, noch jene Gesetze, die das Geschehen irgendwie kontrollieren würden. Was ich auch immer an „Transzendentem“ suche oder gesucht habe wäre zweifelsohne etwas Lebendiges, demgegenüber der platonische Idealismus in einer eigentümlichen Starre verharrt.
Doch eben durch die intensive Beschäftigung sind mir auch die Grenzen des Lebendigen bei Aristoteles bewusst geworden. Alles aufzuzeigen, was ich in dieser Hinsicht herausgefunden habe, würde hier zu weit führen. Stattdessen seien nur zwei Aspekte genannt, die Elefanten im Raum quasi:
- Ablehnung des Mythos: Die platonischen Ideen sind in ihrer Pluralität möglicherweise inspiriert von der heidnischen Götterwelt. Platons Ideenlehre ließe sich dann verstehen als Versuch, den Götterglauben durch einen rein rationalen Entwurf zu überwinden. Wenn Aristoteles nun die platonischen Ideen überwinden will, geht er diesen Weg weiter. Aristoteles nimmt jede einzelne Aussage so wörtlich, wie es nur irgend möglich ist. Analogien werden mithin zu didaktischen Zwecken eingesetzt, ansonsten verzichtet er weitgehend auf Metaphorik.
- Die Philosophie als höchstes Tun: Platon wollte einen Philosophen auf dem Thron sehen. Während Aristoteles so weit nicht ging, erachtete doch auch er die Philosophie als vollkommene Tätigkeit, wobei er nicht nur die Arbeitsteilung übersah, die sie erst möglich macht, sondern offenbar doch nicht anders als Platon glaubte, Philosophie könne immerwährende Wahrheiten liefern.
Einen wichtigen Anstoß hat mir diesbezüglich eine Bemerkung von Emmanuel Levinas gegeben. In einem Interview von 1985 meinte er, dass für ihn fünf Philosophen wesentlich seien, wobei er nach Platon dann schon zu Kant komme. Auf die Frage, wie er Aristoteles auslassen könne, antwortete er:
Nun, ich meine, all das ist Plato: Das Sein, das Gegebene, die Ideen – auch bei Descartes –; dann kommt Kant, wo alles sich umkehrt. [1]
Diese unscheinbare Äußerung ließ mich zurück mit der Vermutung, dass da wohl einiges dran sein dürfte: Aristoteles nicht als Vollender und Überwinder Platons, sondern als sein Erbe in dessen Schatten. Natürlich hat Aristoteles dennoch viel geleistet. Aber was das große Ganze betrifft, bin ich mittlerweile geneigt, mich mit Levinas zusammenzutun.
Vielleicht werde ich mir demnächst also mal Platon etwas näher zu Gemüte führen. Vielleicht sind bei ihm jene Momente, aus denen unsere Kultur erwachsen ist, noch etwas näher päsent als bei Aristoteles. Levinas, selbst Philosoph einer nicht-platonischen Transzendenz, liest Platons Ideenlehre zudem auf eine einzigartige Weise, die mich neugierig macht.
Quellen
[1] Emmanuel Levinas: „Intention, Ereignis und der Andere“. In: Humanismus des anderen Menschen. Meiner, Hamburg 1989, 131-150, S. 147