Dieser Ausspruch Immanuel Kants wurde schon übermäßig oft zitiert, doch wir benötigen ihn für eine logische Analyse. Also, einmal bitte gebetsmühlenartig im Chor:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Philosophische Skepsis
Und nun einmal in Kontrast dazu das, was RKI-Chef Lothar Wieler gestern in der Corona-Konferenz gesagt hat. Ich möchte vorwegnehmen, dass ich ihn hier nicht persönlich angreifen will, sondern stattdessen auf strukturelle Angelegenheiten verweisen. Wieler sehe ich als eine Figur im System, und auch, wenn Bill Gates oder die Anunnaki ihn kontrollieren sollten, dann wären sie wohl ebenfalls Figuren im System. Auch habe ich zu dem YouTube-Kanal „Aufwachen2020“ keinerlei Bezug:
Wieler mahnt die Bürger dieses Landes dazu, die Corona-Abstandsregeln doch bitte nicht mehr zu hinterfragen, sondern sie fortan einfach hinzunehmen und sich daran zu halten. Aus epidemiologischer Sicht ist nur Letzteres relevant, denn auch als Skeptiker kann man sich an die Regeln halten. Tatsächlich ist ein echter Skeptiker jemand, der zu sämtlichem Weltgeschehen eine gewisse stoische Distanz hält, sich mit nichts übermäßig identifiziert. Philsophische Skepsis hat mit Verschwörungstheorien nichts zu tun, weil diese nur eine „alternative“ Wahrheit an die Stelle der „offiziellen“ setzen. Verschwörungstheoretiker schwimmen gegen den Strom, Skeptiker steigen hingegen ganz aus dem Fluss und betrachten das Treiben entspannt vom Ufer aus. Die hieraus resultierende Seelenruhe nannten die Griechen ataraxia. Kurzum: Wieler mahnt die Bürger dazu, zu gehorchen. Hierin haben die Verschwörungstheoretiker durchaus recht.
Was ist Technokratie?
Eine „Technokratie“ liegt dann vor, wenn abgeklärte Experten jedweder Provenienz die Welt numehr verwalten, anstatt in hitzigen Politikerdebatten um die Beliebtheit beim Volk zu buhlen. Auf den ersten Blick mag das toll klingen. In der Praxis kommt es jedoch zu dem Problem, dass, um den demokratischen Diskurs überspringen zu können, zu jedem Zeitpunkt klar sein müsste, welche Ziele jeweils verfolgt werden, und außerdem dürften diese Ziele sich nirgends widersprechen. Zu derartigen Zielen kann etwa das Überleben der Menschen gehören, der Wohlstand der jetzigen oder der der kommenden Generation, die Bevorzugung der Innenpolitik oder die der Außenpolitik, Egoismus oder Altruismus, mehr Geld für Forschung oder für die Autoindustrie, alles, was in ethischen Debatten diskutiert wird, kurzum, alles, was Menschen bewegt. Verschiedene Menschen haben hierbei verschiedene Wertvorstellungen, aus welchen sich politisches Handeln erst ergibt, was insbesondere für die parlamentarische Demokratie und ihre Parteien gilt. Die verschiedenen Ziele müssen gegeneinander abgewogen werden, und zwar in einer Weise, die kein Computer – und kein „Experte“ – errechnen kann. Politik benötigt immer noch die spezifische Menschlichkeit.
Nun sind Experten aber nicht nur Experten, sondern natürlich auch Menschen. Wer mit der Technokratie sympathisiert, könnte sich etwa fragen, was Politiker denn an sich haben, das wissenschaftlich gebildete Menschen nicht haben, und ob Wissenschaftler nicht auch als Menschen geeigneter seien, Politik zu machen. Hier wäre aber die Frage zu stellen, ob die charakterliche Souveränität, die Wissenschaftlern hier im Gegensatz zu Politikern zugeschrieben wird, nicht gerade darauf beruht, dass Wissenschaft eben nicht in die Machtspiele der Politik verwickelt ist. Denn Experten sind nicht nur auch Menschen, sie sind auch nur Menschen. Würde man diese Gewaltenteilung aufheben, so könnte das zur Korruption der Wissenschaft führen. Die Politik wäre dann nicht besser als vorher, und die Institution Wissenschaft würde kompromittiert werden.
Corona als Ende der Aufklärung
Der Umgang mit der Corona-Krise war und ist technokratisch insofern, als Experten der Politik nicht nur mit Rat und Tat zur Seite standen, sondern selbst zu politischen Akteuren wurden. Dass Wieler von den Menschen allen Ernstes erwarten kann, ihm zu „gehorchen“, wenn wir einmal bewusst bei dieser drastischen Formulierung bleiben, ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Der Prozess, Handlungszwecke gegeneinander abzuwägen, wird bei der Corona-Pandemie dadurch umgangen, dass man die „Rettung von Menschenleben“ und die „Eindämmung der Pandemie“ als selbstevidente Werte setzt, die alles andere, was auch nur denkbar wäre, übertreffen. Um hier jedoch nicht übermäßig zu dramatisieren, sei daran erinnert, dass Wieler sich in unserem Beispiel nur auf die Abstandsregeln bezieht, auf welche man auf Verschwörungs-Seite oftmals tatsächlich überempfindlich reagiert.
Kommen wir nun auf Kants Verständnis von Aufklärung zurück, das unverkennbar an den Wert des Selberdenkens geknüpft ist, welches heutzutage zunehmend mit Verschwörungsdenken assoziiert wird. (Wäre Kant heute also Verschwörungstheoretiker?) Es erscheint damit auch zunehmend so, als ob die Institution Wissenschaft die Menschen per se für unmündig hält: Der Durchschnittsbürger, wie die Experten ihn sehen, ist offenbar nicht imstande, in vernünftiger Weise für sich selbst zu denken, sondern immer, wenn er es probiert, endet das im Chaos. Die Frage bleibt, ob und inwiefern diese Unmündigkeit selbstverschuldet ist oder nicht.
Angenommen, die Unmündigkeit der Menschen ist selbstverschuldet: die Menschen könnten sich eigentlich klar darüber werden, dass die Welt des dritten Jahrtausends vielleicht komplexer ist, als ihre fixen Ideen sie zeichnen, aber fühlen sich in ihrer Filterblase und Echokammer irgendwie so wohl, dass sie keine Lust haben, diesen Denkaufwand zu betreiben. Das würde bedeuten, dass es zu keinem Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit kommt. Weil Kant die Aufklärung aber über diesen Ausgang definiert, handelt es sich hierbei in logischer Konsequenz um das Scheitern der Aufklärung, insofern sie fortan ausbleibt, ohne dass die Menschen deswegen als „aufgeklärt“ gelten können.
Angenommen, die Unmündigkeit der Menschen ist nicht selbstverschuldet: die menschliche Psyche ist in der modernen Medienwelt eben haltlos überfordert und sucht sich ihre eigenen fixen Lösungen gerade, weil sie die Informationsflut und Überstimulation seelisch und mental nicht mehr bewältigen kann. Dann hat die Aufklärung keinen Punkt mehr, an dem sie noch anknüpfen könnte, weil sie per Definition ja das Vorhandensein selbstverschuldeter Unmündigkeit benötigt. Weil man die Menschen wohl trotzdem nicht als „aufgeklärt“ bezeichnen würde, lässt sich auch hier von einem Scheitern der Aufklärung sprechen.
Das Scheitern der Aufklärung lässt sich demnach unabhängig von der Frage diagnostizieren, ob die Unmündigkeit nun selbstverschuldet ist oder nicht. Die einzigen, die unter diesen Bedingungen noch zur Mündigkeit gelangen könnten, wären wohl die Experten selbst. In ihrer Mündigkeit würden sie dann, sobald es um ihren Fachbereich geht, die ihnen jeweils zugeteilte Funktion wahrnehmen und ansonsten, weil sie in ihrer Mündigkeit ja auch die engen Grenzen der eigenen Expertise achten werden, den Mund halten und Ja sagen.
Das Ende des autonomen Subjekts
Schon die Frage danach, ob Unmündigkeit „selbstverschuldet“ sei oder nicht, zeichnet den Menschen als autonomes Subjekt, wie das Kantsche Menschenbild oft bezeichnet wird: als Menschen, der in sich selbst frei, selbstbestimmt und würdevoll ist. Diesem Bild liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich der Mensch aus dem Naturzusammenhang zumindest in Teilen herauslösen lasse, dass irgendwo in ihm ein reiner Geist wohne, der die Leidenschaften zu zügeln vermag. Viele unserer Institutionen, von der Schule bis zum Rechtssystem, bauen heute noch mehr oder minder auf dieser Prämisse auf.
„Experten“, etwa Biologen und Psychologen, würden natürlich kaum behaupten, dass diese Vorstellung noch zeitgemäß sei. Nichtsdestotrotz ist die Wissenschaft gemeinsam mit dem auch von Kant stark geprägten Humanismus erwachsen, und natürlich hielt die Wissenschaft sich auch in der Vergangenheit für aufklärerisch. Wo die Wissenschaft zur Technokratie wird, sagt sie sich hiervon jedoch los. Ich will hiermit also nichts Abschließendes über die Aufklärung an sich aussagen, sondern nur festhalten: Eine Technokratie wäre das endgültige Eingeständnis seitens der Wissenschaft, dass die Aufklärung gescheitert ist. Hierin entspräche sie auch einem post-aufklärerischen Verständnis von Wissenschaft selbst.