Immanuel Kant und die Außerirdischen

Dass die kopernikanische Wende dazu einlud, die Stellung des Menschen im Kosmos zu überdenken, ist ein kulturwissenschaftlicher Gemeinplatz. In diesem Zuge ließen sich auch hervorragend Gedanken über Bewohner anderer Gestirne entwerfen. Ein Giordano Bruno musste für entsprechendes Gedankengut noch sein Leben lassen. Im Zeitalter der Aufklärung durfte Immanuel Kant freier über die Thematik nachdenken. Mit Bruno hat er dabei allerdings gemeinsam, dass er hier nicht mit der Nüchternheit des Wissenschaftlers, mit der Vorsicht des Philosophen vorgeht, sondern auch die Leidenschaft eines Mystikers an den Tag legt.

Kant als Naturforscher

Kant ist zumeist als Philosoph im heutigen Verständnis bekannt. Mit seinem Namen wird meist das Motto Sapere aude! als „Leitspruch der Aufklärung“ verknüpft, er formulierte den „kategorischen Imperativ“ und ließ sich in seinen drei „Kritiken“ auf allerlei verwinkelte, labyrinthartige Gedankengänge ein, welche beim Leser reichlich Kopfschmerzen verursachen können.

Kant betätigte sich jedoch auch als Naturforscher, so zum Beispiel in seinem frühen Werk Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Als fruchtbar erwies sich dabei seine Hypothese über die Entstehung des Sonnensystems, laut welcher sich Sonne, Planeten und Monde durch das Wechselspiel von Gravitation und Fliehkraft aus einem rotierenden „Urnebel“ gebildet haben sollen. Weil Pierre-Simon Laplace später einen ähnlichen Einfall hatte, spricht man in diesem Zusammenhang auch von der Kant-Laplace-Theorie. Im Wesentlichen ist die Theorie auch heute noch anerkannt: Man geht davon aus, dass Sternsysteme aus interstellaren Nebeln entstehen, die unter ihrer eigenen Gravitation kollabieren und dabei zunehmend in Rotation geraten.

Im selben Buch äußert sich Kant jedoch auch über die Bewohner der übrigen Gestirne. Dabei bewegt er sich nicht mehr im Bereich neutraler wissenschaftlicher Theoriebildung, sondern spricht mitunter im Brustton der Überzeugung, zumal seine Überlegungen symbolisch überfrachtet sind und eine starke ethische Komponente mit sich bringen, sprich, in einen kosmologischen Sinn-Zusammenhang eingebettet bleiben. Dieser baut wiederum auf der kopernikanischen Wende auf – auf der Erkenntnis, dass die Erde nicht das Zentrum der Welt, sondern ein um die Sonne kreisender Planet sei.

Die Beschaffenheit der Außerirdischen

Kant vergleicht Erdbewohner, die von sich glauben, sie seien die einzigen Lebewesen im All, mit Kopfläusen, die von sich glauben, es gäbe keine anderen Läuse auf anderen Köpfen:

Dieses Insekt, welches sowohl seiner Art zu leben, als auch seiner Nichtswürdigkeit nach, die Beschaffenheit der meisten Menschen sehr wohl ausdrückt, kann mit gutem Fuge zu einer solchen Vergleichung gebraucht werden. Weil, seiner Einbildung nach, der Natur an seinem Dasein unendlich viel gelegen ist: so hält es die ganze übrige Schöpfung für vergeblich, die nicht eine genaue Abzielung auf sein Geschlecht, als den Mittelpunkt ihrer Zwecke, mit sich führet. (162)

So weit, so unspektakulär – was Kant hier ausspricht, klingt noch wie das altbackene Narrativ zur kopernikanischen Wende, wie es auch der Feder eines Richard Dawkins entstammen könnte. Kant hält jedoch an einem „teleologischen“ Naturbild fest, wonach die Entstehung des Lebens kein blinder Zufallsprozess ist, sondern ein in der Natur von Anfang an vorgegebenes Ziel, oder zumindest ein ihr innewohnender Drang zum Werden. Es mag ihm deshalb noch plausibel erscheinen, wenn es einige unbewohnte Planeten gibt, aber im Mittel müsse das All doch belebt sein:

Indessen sind doch die meisten unter den Planeten gewiß bewohnt, und die es nicht sind, werden es dereinst werden. (163)

Hier fängt es nun an. Kant denkt zunächst über das Verhältnis zwischen Körper und Geist beim Menschen nach. Bei ihm, dem großen Philosophen der Aufklärung und „Vernunft“, steht der Geist dabei für das Höhere und Erhabene, der Körper hingegen für die Triebe und fleischlichen Gelüste, beziehungsweise für die bloße Selbsterhaltung durch Fortpflanzung.

Das Vermögen, abgezogene [=abstrakte] Begriffe zu verbinden und durch eine freie Anwendung der Einsichten, über den Hang der Leidenschaften zu herrschen, findet sich spät ein, bei einigen niemals in ihrem ganzen Leben; bei allen aber ist es schwach: es dienet den unteren Kräften, über die es doch herrschen sollte, und in deren Regierung der Vorzug seiner Natur bestehet. (164)

Der Mensch ist also ein „Mittelwesen“ zwischen Körper und Geist. Das ist auch biologisch bedingt:

Die Nerven und Flüssigkeiten seines Gehirnes liefern ihm nur grobe und undeutliche Begriffe, und weil er der Reizung der sinnlichen Empfindungen, in dem Inwendigen seines Denkungsvermögens, nicht genugsam kräftige Vorstellungen zum Gleichgewichte entgegenstellen kann: so wird er von seinen Leidenschaften hingerissen, von dem Getümmel der Elemente, die seine Maschine unterhalten, übertäubet und gestöret. (165)

Eine Leiter der Vollkommenheit

Woher kommt aber die biologische Konstitution des Menschen? Sie ergibt sich natürlich auch aus der Beschaffenheit der Erde. Hier fällt Kant nun auf, dass nicht nur der Mensch Mittelwesen zwischen Körper und Geist ist, sondern auch die Erde unter allen Planeten einen eher mittleren Abstand zur Sonne einnimmt. Dieser Abstand ist es nun auch, der bestimmt, wie grob oder fein gebaut die Lebewesen eines jeweiligen Gestirns sind. Die größere Hitze in Sonnennähe macht feinere und leichtere Strukturen schlicht zunichte, während sie stattdessen die reine Trägheit und Gewalt fördert.

Der Stoff, woraus die Einwohner verschiedener Planeten, ja sogar die Thiere und Gewächse auf denselben, gebildet sind, muß überhaupt um desto leichterer und feinerer Art, und die Elasticität der Fasern sammt der vorteilhaften Anlage ihres Baues, um desto vollkommener sein, nach dem Maße als sie weiter von der Sonne abstehen. (167)

Was den Geist betrifft, lässt sich sagen,

…daß die Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, sammt dem Vermögen, sie zusammenzusetzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausübung, kurz, der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit unter einer gewissen Regel stehen, nach welcher dieselben, nach dem Verhältniß des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne, immer trefflicher und vollkommener werden. (168)

Kant fährt fort, die Rotationsgeschwindigkeit der Himmelskörper zu betrachten und sieht hierin seine Überlegungen bestätigt.

Verborgener Rassismus?

Kann man Kant hier auf eine Weise kommentieren und gegebenenfalls kritisieren, die über das Offensichtliche hinausgeht?

Zunächst einmal fällt auf, dass Kant, wenn er die Himmelsleiter, von der Sonne ausgehend, Richtung Uranus konstruiert, die Sonne gerade nicht als „natürliches Licht“ der Vernunft, als Licht der Aufklärung deutet, sondern vielmehr als Höllenfeuer, als Chaos und Hexenkessel, welchen es freilich zu meiden gilt. Dabei wäre die umgekehrte Deutung wohl ebenso möglich. Das mag vielleicht nebensächlich erscheinen, aber bei dem zweiten Punkt, welchen ich anzumerken hätte, kann es nicht schaden, diese alternative Deutung im Hinterkopf zu behalten.

Ferner ergibt sich nämlich aus Kants Logik, laut welcher mehr Hitze mehr Grobschlächtigkeit und weniger Feinsinnigkeit bedeutet, die Frage, was für Konsequenzen das bereits für die irdischen Verhältnisse hätte. Es entsteht ja der Eindruck, dass die Menschen vollkommener sein müssten, je „nordischer“ sie seien, und dass diese sich den „tierhaften“ Südländern gegenüberstellen lassen müssten (was freilich nur für die Nordhalbkugel gilt).

Was heute als „Rassismus“ bezeichnet wird, ist zumeist höchstens unbewusster Rassismus. Oft wird vergessen, dass Rassismus eine biologisch begründete Lehre ist. Beispielsweise wäre Islamophobie allein noch nicht rassistisch: Ein islamophober Nazi würde vielleicht meinen, dass die Araber die islamische Ideologie „mit der Muttermilch“ aufsaugen, aber für gewöhnlich wohl nicht, dass sie ihnen direkt „ins Erbgut geschrieben“ sei. Auch der härteste Nazi würde für gewöhnlich wohl doch davon ausgehen, dass ein arabisches Findelkind, welches in einer urdeutschen Familie aufwächst, auch zum Deutschen heranreifen könne. Vielleicht würde er es auch nicht; mir geht es an dieser Stelle nur darum, den biologischen Charakter dessen zu betonen, was „Rassismus“ dem Wortsinn nach bedeutet. Wo echte oder vermeintliche Unterschiede nicht auf biologische, sondern bloß kulturelle Gegebenheiten zurückgeführt werden, handelt es sich natürlich nach wie vor um gruppenbezogene Diskriminierung, jedoch nicht mehr um Rassismus im eigentlichen Sinne – zumindest nicht um bewussten Rassismus, während unbewusst das Motiv für die Ausgrenzung natürlich schlicht und ergreifend das biologisch bedingte Äußere bleiben mag. (Auch stellt sich die Frage, ob das nationalistische Konzept des „Volkes“ hier nicht jede Trennung von Biologie und Kultur aufhebt, sodass Nationalismus immer rassistisch wäre.)

Wenn man Kant hier aus dem oben genannten Grund als Rassisten verstehen dürfte, dann wäre er jedenfalls „echter“ Rassist, denn er spricht ja eindeutig von biologisch bedingter „Vollkommenheit“, welche stets die Unvollkommenheit als ihre Kehrseite aufweist. Die Frage ist nun, ob diese Deutung gerechtfertigt ist, oder ob sie den Rahmen von Kants Überlegungen arg überstrapaziert.

Überhaupt führt Kant zwar die afrikanischen Hottentotten als Exempel der Grobschlächtigkeit an – aber eben auch die Grönländer, also die Eskimos beziehungsweise Inuit, die ja Menschen des hohen Nordens sind (vgl. 169). Es scheint demnach, als würde Kant davon ausgehen, dass die relativen Temperaturunterschiede auf der Erde im Vergleich zu denen zwischen den Gestirnen unbedeutend wären.

Das gilt allerdings nur für die Theorie des Himmels. Aus diesem Text allein lässt sich ihm zwar noch kein Strick drehen. In anderen Schriften gibt sich Kant, Wegbereiter der Rechte und Würde des Menschen, jedoch klar als Rassist zu erkennen. Auch der Begriff der „Vollkommenheit“ taucht dabei auf:

Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften. [1]

Kant muss hierbei unbedingt als Kind seiner Zeit verstanden werden. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen – ich bin kein Kant-Verehrer –, aber ihn jetzt als Rassisten abzustempeln würde immerhin bedeuten, auch seine Beiträge zum aufklärerischen Humanismus zu verneinen. Eher müsste man fragen, inwiefern die aufklärerische Vernunft selbst kolonialistisch, imperialistisch oder sogar rassistisch ist. Doch auch bei dieser Frage liefe man Gefahr, die womöglich vorhandene eigene Abhängigkeit von ihr zu verleugnen. Kant zu pauschalisieren, wäre dann ein Akt intellektueller Unredlichkeit.

Werden wir also nicht pauschal, sondern bleiben wir beim Thema. Im Vergleich mit seinen Rassentheorien zeigt sich immerhin, dass Kant hier die gemäßigten Breiten, das Mittlere, als Indiz der Vollkommenheit sieht:

In der Parallele, die, durch Deutschland gezogen, um den ganzen Erdkreis läuft, und einige Grade diesseits und jenseits sind vielleicht die größten und schönsten Leute des festen Landes. [2]

Damit unterscheidet sich seine irdische Rassentheorie von seiner außerirdischen. Während in dieser das Mittlere eben das Mittlere ist, ist in jener das Mittlere die „goldene Mitte“, welche optimale Bedingungen schafft. Der Weihnachtsmann ist also nicht der Übermensch. Wie gesagt findet sich selbst in der Theorie des Himmels eine Gleichsetzung der afrikanischen Hottentotten mit Menschen des hohen Nordens. Der Widerspruch zwischen den Betrachtungsweisen lässt sich daher nicht auf unterschiedliche Schaffensphasen Kants zurückführen, ist er doch in ein und demselben Werk anzutreffen.

Warum?

Warum schreibe ich also diesen Beitrag? Wie gesagt will ich Kant hier nicht diffamieren. In erster Linie handelt es sich um ein geistesgeschichtliches Interesse, ein Interesse dafür, wie die Menschen früher über die Welt dachten. Wenn wir wissen, woher wir kommen, wissen wir eher, wohin wir gehen. In zweiter Linie bin ich fasziniert von Kants teleologischer Naturauffassung, die noch in einem krassen Gegensatz zur heutigen Deutung der Evolutionstheorie steht, weil sie nicht von vornherein alles für blinden Zufall erklären muss.

Quellenangaben

Die in runden Klammern notierten Seitenzahlen beziehen sich auf:

  • Immanuel Kant, Fritz Krafft (Hrsg.). Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Kindler, München 1971

[1] zit. n. Karl Friedrich Herb: „Unter Bleichgesichtern. Kants Kritik der kolonialen Vernunft“, S. 383
[2] zit. n. ebd.

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