Vitamin D und Sonne

Wussten Sie schon? Wenn die Sonne auf unsere Haut trifft, erzeugen wir Vitamin D, und das macht glücklich! Wissenschaftliche Studien haben das gezeigt.¹ Menschen mit Winterdepressionen bekommen sogar Vitamin-D-Tabletten verschrieben.

Endlich haben wir eine Erklärung dafür, warum wir uns glücklich fühlen, wenn wir in das wärmende Antlitz der Sonne blicken. Endlich haben wir einen Grund, spazieren zu gehen, frische Luft zu schnappen; wir müssen es nicht mehr zum Selbstzweck tun. Das wäre schließlich Müßiggang, und der hat immer etwas Suspektes, Fragwürdiges, ja, Unmoralisches an sich. Ein Müßiggänger scheitert im Leben; er kann kein erfolgreicher Mensch werden. Denn auf Instagram steht geschrieben: Listen to your heart. Follow your dreams.

Nein, um einen möglichen Selbstzweck des Spaziergangs brauchen wir uns nun keine Sorgen mehr zu machen. Wir „tanken“ nicht nur Sonne, wir verbrauchen nicht nur Sonne wie ein Auto Diesel, nein, wir synthetisieren sogar selbst, und zwar Vitamin D! Wir sind ganz schön fleißig, wenn wir spazieren gehen. Wir sind gute Arbeiter. Wenn uns jemand beim Spaziergang erwischt, kommen wir nicht mehr in Erklärungsnot mit Sätzen wie „Ich wollte doch nur…“ oder „Das Wetter war so schön und da hat es mich einfach überkommen…“ – nein, wir können ihm ruhig und sachlich erklären, dass wir unser lebenswichtiges Vitamin D brauchen. Wir gehen nicht spazieren, wir gehen arbeiten in unserer körpereigenen Pharmafabrik!

Endlich müssen wir nicht mehr darüber entscheiden, ob wir unser Gesäß erheben und spazieren gehen wollen. Nein, die Wissenschaft hat uns diese Entscheidung, diese Qual der Wahl, unsere Mündigkeit (hörst du das, Kant?), diese Bürde der Freiheit, unseren Weg selbst zu bestimmen – sie hat sie uns abgenommen. Der Imperativ ist so schlicht wie genial: Nicht noch eine Folge Game of Thrones – nein, aus jetzt! Und raus mit dir!

Wer nicht gerne nach draußen geht, ist nun auch kein Stubenhocker mehr, sondern schlicht und einfach Selbstzerstörer. Für ihn gibt es erst recht keine Alternative: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass er unglücklich wird, wenn er nicht spazieren geht – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: un-glück-lich! Das ist praktisch wie tot, mindestens Wachkoma! Um das zu verhindern, muss unser potenzieller Selbstzerstörer sich schleunigst auf einen Spaziergang begeben, auch, wenn ihm das nicht gefällt. Es wäre schließlich das Beste für ihn! Beim verheißungsvollen Tritt über die Türschwelle geben wir ihm noch einen gut gemeinten Popoklatscher und ein Augenzwinkern mit. Stell‘ dich nicht so an, denken wir, aber ein bisschen Stolz auf unsere Fähigkeit, mit unserer Berufung auf die ewigen Wahrheiten der Wissenschaft Menschen zu beeinflussen, sind wir auch.

So danket dem Vitamin D! Traget die frohe Botschaft des frohmachenden Botenstoffes hinaus in die Welt. Und wenn euch jemand fragt, was Vitamin D eigentlich sei, dann antwortet, ihr wäret nur Laien und als Laie solle man sich keine Bilder vom Vitamin D machen. Verweiset ihn auf Priester Google, er möge euch mit der heiligen Wikipedia in Kontakt bringen!

PS: Eigentlich wollte ich diesen sehr polemischen Text nicht veröffentlichen, aber sowie ich heute von einem Nachrichtensprecher die Aussage „Wir kommen ja alle mit einem gehörigen Vitamin-D-Mangel aus dem Winter“ hörte, wurde mir die Relevanz und Aktualität des Themas wieder aufgezeigt.

Quellen:

¹JU, S.-Y.; LEE Y.-J., JEONG S.-N. Serum 25-hydroxyvitamin D levels and the risk of depression: A systematic review and meta-analysis. J. Nutr. Health Aging 17 (2013), S. 447-455

Weiterführende Artikel:

Die Legende vom Wundermittel Vitamin D (welt.de)

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