Mit der Quantenphysik hielt der „Indeterminismus“ Einzug ins physikalisch-philosophische Alltagsvokabular. Indeterminismus bedeutet, auch bei vollständiger Kenntnis der Anfangsbedingungen nicht vorhersagen zu können, wie sich das betrachtete System verhalten wird. Man unterscheidet zwischen „epistemischem“ und „ontischem“ Indeterminismus. In diesem Text möchte ich darlegen, dass der ontische Determinismus gleichbedeutend mit einem akausalen Verhalten des Systems ist und auf dieser Grundlage dann die Kausalität überhaupt hinterfragen. Wer sich in der Materie bereits auskennt, kann die ersten beiden Abschnitte getrost überspringen.
Epistemischer Indeterminismus
Epistemischer, das heißt „auf unser Wissen bezogener“ Indeterminismus begegnet uns bei statistischen Prozessen und in chaotischen Systemen.
Wenn wir würfeln, wissen wir nicht, welche Augenzahl unser Würfel am Ende zeigen wird. Wir – oder wenigstens die Physiker – gehen jedoch davon aus, dass wir, wüssten wir die genaue Wurfbewegung (die Haltung der Hand, Geschwindigkeit, Beschleunigung, vielleicht sogar Details wie den Fettgehalt und der Hautoberfläche) sowie die Beschaffenheit von Würfel und Tisch, die Augenzahl am Ende mit großer Sicherheit voraussagen könnten. In der Praxis ist das selten möglich. Hier dient der Begriff der Wahrscheinlichkeit dazu, mit unserem Unwissen über den statistischen Prozess umzugehen. Sobald der Prozess durchgeführt ist, wird die Wahrscheinlichkeit zur messbaren relativen Häufigkeit und tritt damit aus dem Reich der Möglichkeiten in das der Fakten.
Ein chaotisches System ist ein System, welches nichtlinear von seinen Anfansbedingungen abhängt. Das bedeutet, dass selbst winzigste Variationen im hintersten Nachkommabereich am Ende für große Änderungen sorgen können, ganz nach dem Motto: „Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann am anderen Ende der Welt einen Tornado auslösen.“ Und tatsächlich ist das Wetter ein bekanntes Alltagsbeispiel für ein chaotisches System: Wenn man die Anfangsbedingungen sehr genau bestimmt, lässt sich das Verhalten des Systems für einen begrenzten Zeitraum vorhersagen. Je größer der Zeitraum wird, desto unsicherer wird jedoch die Vorhersage. Da jede physikalische Messung mit einer Messunsicherheit behaftet ist, ist in der Praxis zudem keine beliebig exakte Bestimmung der Anfangsbedingungen möglich. Wir können vorhersagen – also berechnen -, wie das Wetter sich morgen verhalten wird, aber einen Wetterbericht für nächstes Jahr werden wir nicht finden. In zehntausend Jahren sind die physikalischen Modelle und Rechner vielleicht weit genug fortgeschritten, um das Wetter in einem Jahr berechnen zu können. Trotzdem werden sie nicht wissen, wie es sich in hundert Jahren verhalten wird.
Sowohl bei statistischen Prozessen als auch in der Chaostheorie gehen wir davon aus, dass der Endzustand des Systems, auch wenn wir ihn im Großen nicht berechnen können, im Kleinen aber doch durch den Anfangszustand vorherbestimmt wird, und das ist mit Determinismus gemeint. Es ist in der physikalischen Praxis zwar nicht möglich, aber in der mathematischen Theorie würden vollkommen identische Anfangsbedingungen auch für eine vollkommen identische Entwicklung des Systems in der Zeit sorgen. Der Indeterminismus ist somit epistemischer, auf das Wissen bezogener Art.
Ontischer Indeterminismus
Zwar können wir die Quantenphysik anwenden – und das beeindruckend erfolgreich -, weil wir sie auf mathematischer Ebene verstanden haben. Auf philosophischer Ebene konnten sich die Physiker jedoch immer noch nicht einigen, was bei vielen quantenphysikalischen Phänomenen tatsächlich in der physischen Realität passiert.¹ Dass das auch hundert Jahre nach ihrer Entdeckung noch der Fall ist, suggeriert meines Erachtens, dass hier noch einiges im Argen liegt.
In der Quantenphysik herrscht ontischer, das heißt „auf das Sein bezogener“ Indeterminismus. In dieser Hinsicht ist man sich weitgehend einig geworden, wobei die Viele-Welten-Interpretation der Quantenphysik eine ernstzunehmende Ausnahme darstellt – dafür muss sie jedoch postulieren, dass unser Universum letztendlich keine Realität darstellt, die sich mathematisch beschreiben lässt, sondern selbst Mathematik ist. (Dies ist wohl ihre zentrale Aussage; die gängige Beschreibung mit Paralleluniversen, den im Namen enthaltenen „vielen Welten“, erzeugt bei der ersten Begegnung mit der Theorie schnell einen falschen Eindruck, weshalb ich sie hier vermeide.) In Schule und Universität gelehrt wird die Quantenphysik in aller Regel als ontisch indeterministisch.
Anhand der Erläuterung zum epistemischen Indeterminismus ist es nicht mehr schwer, den ontischen Indeterminismus zu erklären: Er bedeutet schlicht, dass auch vollkommen identische Anfangsbedingungen bei mehrfachen Durchführungen des Experiments unterschiedliche Endzustände herbeiführen können. Der Anfangszustand legt den Endzustand nicht vollständig fest.
Dass es uns im Alltag trotzdem so scheint, als sei die Realität deterministisch, sodass ja auch alle vorherigen physikalischen Theorien vom ontischen Determinismus ausgingen, liegt daran, dass die Quantenphysik trotzdem statistischen Gesetzen folgt. Manche Zustände sind wahrscheinlicher als andere und es gilt das Gesetz der großen Zahlen, sodass halbwegs ähnliche Experimente auch halbwegs ähnliche Ergebnisse erzeugen. Wäre dem nicht so, könnte in jedem Moment mit dem gesamten Universum alles nur Denkbare oder vielleicht auch Undenkbare passieren – wir wüssten es nicht. Dann wäre überhaupt keine Physik als erfahrungsbasierte Wissenschaft möglich.
Physiker sprechen häufig davon, dass mit einer Messung – die den Übergang von einem Überlagerungszustand verschiedener Möglichkeiten zu einem eindeutigen Zustand (von Wahrscheinlichkeit zu relativer Häufigkeit) einläute – das quantenphysikalische System „kollabiere“. Der Kollaps ist dabei zwar ein Begriff, der nicht in allen Deutungen der Quantenphysik vorkommt. Jedoch ist eine sprachliche Grundlage, um sich über das Beobachtete verständigen zu können, im wissenschaftlichen Alltag schließlich unerlässlich. Ein guter Physiker gesteht sich sein Unwissen in aller Regel ein: Da der Indeterminismus ontisch ist, ist es nicht nur so, dass sich für diesen Kollaps kein „Mechanismus“ oder ähnliches angeben ließe, nein, tatsächlich existiert kein Mechanimus, der den Kollaps herbeiführt.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Dem Leser, der dies zum ersten Mal liest, seien ein paar Sekunden vergönnt, um sich in wilder Entzückung am Kopf zu kratzen. Detailliertere Informationen zum Thema bietet vor allem das Doppelspaltexperiment. Von Schrödingers Katze sind wir auch nicht weit entfernt, jedoch stellt diese lediglich ein theoretisches Gebilde dar, während sich das Doppelspaltexperiment tatsächlich durchführen lässt. Daher wäre auf jeden Fall zu Ersterem zu raten.
Kausalität oder nur Korrelation?
So viel zur Einleitung – jetzt meine eigentlichen Gedanken, die vergleichsweise kurz ausfallen. Wenn für den Kollaps des Systems kein physikalischer Mechanismus existiert, dann ist der Kollaps eine physikalische Wirkung ohne physikalische Ursache. Das Prinzip von Ursache und Wirkung heißt Kausalität. Ontischer Indeterminismus ist also gleichbedeutend mit einem nicht-kausalen, mit einem „akausalen“ Verhalten des Systems. Der Kollaps geschieht „einfach so“ und seit hundert Jahren weiß niemand so richtig, warum.
Dass die Quantentheorie so revolutionär wirkte, könnte daran liegen, dass sich die Physiker zu sehr an gewisse, oft sicher implizite, nur selten ausgesprochene Auffassungen der Realität gewöhnt hatten. Dann könnte es für ein umfassendes Verständnis der Quantentheorie hilfreich sein, diese Auffassungen ausfindig zu machen und zu hinterfragen. Die Kausalität gehört vielleicht zu ihnen.
Was meine ich, wenn ich als Physiker von Ursache und Wirkung spreche? Es heißt zum Beispiel, die Kraft sie die Ursache der Beschleunigung. Das scheint gleichbedeutend mit der Aussage zu sein, dass aus der Kraft die Beschleunigung resultiere. Ein Resultat wiederum ist immer Ergebnis eines Vorgangs. Wenn ich von einem Vorgang spreche, denke ich mir jedoch immer ein Geschehen in der Zeit, und hier liegt das Problem: Sofern in dieser Gedankenkette kein Fehler steckt, denke ich mir beim Sprechen von Ursache und Wirkung immer einen zeitlichen Abstand zwischen beiden. Bereits das Wort „Ursache“ deutet darauf hin. Die Ur-Sache, das ist doch wohl die ur-sprüngliche Sache, so wie der Ur-Knall oder auch meine Ur-Großmutter. Meine Urgroßmutter und der Urknall sind jedoch vergangen, sie gehören der Vergangenheit an.
Jeder weiß jedoch, dass die Beschleunigung zeitgleich mit dem Angreifen der Kraft geschieht. Welchen Maßstab lege ich hier an, wenn ich sage, die Kraft sei die Ursache der Beschleunigung? Könnte nicht ebenso die Beschleunigung die Ursache der Kraft sein? Das einzige, was ich wirklich weiß, ist, dass zwischen beiden eine Korrelation besteht. Das eine tritt immer zusammen mit dem anderen auf. Blicke ich noch tiefer, erkenne ich vielleicht, dass die „Kraft“ letztendlich Teil eines abstrakt-mathematischen Konzeptes ist, welches mir nicht notgedrungen eine Aussage über die Realität liefert.
Das bedeutet aber auch, dass ich mit der Kraft nicht die Beschleunigung erklären kann. In Wahrheit ist die Kraft nur ein Begriff, um die Beschleunigung zu beschreiben. Eine Erklärung schließt immer von einer beobachteten Wirkung auf eine unbeobachtete Ursache. Sie läuft nach dem Schema „Das ist so, weil…“ ab, und nicht umsonst heißt der mit „weil“ eingeleitete Nebensatz in der Grammatik Kausalsatz.
Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Erkenntnis, dass ich viel Geld auf dem Konto habe, weil ich viel gearbeitet habe und der Erkenntnis, dass ich vom Dreimeterbrett falle, weil ich von der Schwerkraft beschleunigt werde: Im ersten Satz existiert ein zeitlicher Abstand zwischen beobachteter Wirkung und angenommener Ursache, im zweiten nicht.
Es dürfte weitere philosophische Untersuchungen erfordern, um festzustellen, ob die Kausalität tatsächlich einen zeitlichen Abstand zwischen Ursache und Wirkung voraussetzt. Mein Text macht aber hoffentlich deutlich, dass dieses potenzielle Problem in der Alltagssprache nicht bedacht wird! Mir fällt kein so einfaches Wort wie „weil“ ein, welches keinen Kausal-, sondern eine Art „Korrelativsatz“ Satz einleiten würde, welcher deutlich machen würde, dass zwischen zwei gleichzeitigen Phänomenen eine feste Korrelation besteht – außer vielleicht „und“, aber was sagt das schon aus?
Besonders klar sahen dies vielleicht die Griechen, die über die Ursache der Bewegung nachdachten, ohne die mechanische Kraft oder Trägheit zu kennen. Ein so nüchterner Geist wie der von Aristoteles sprach aufgrund dessen von einem „unbewegten Beweger“. Meinte er Gott? Meinte er die Zeit? War ihm bewusst, dass eine kausale Erklärung der Bewegung nicht möglich ist?
Die Konsequenzen hiervon können noch drastischer sein, nämlich wenn sie auf das grundlegende Paradigma der Bewusstseinsforschung übertragen werden, dass unser Gehirn unser Bewusstsein erzeuge. Es heißt, wir nehmen etwas wahr, weil unsere Neuronen aktiv seien. Übertragen wir die obige Argumentation, ließe sich ebenso behaupten: „Unsere Neuronen sind aktiv, weil wir etwas wahrnehmen.“ Beide Behauptungen stünden gleichberechtigt nebeneinander, könnten aber beide nicht als vollständige Wahrheit gelten, da sie sich offenkundig widersprechen.
Fazit:
Wie gesagt bin ich mir noch nicht sicher, ob Kausalität tatsächlich einen zeitlichen Abstand zwischen Ursache und Wirkung impliziert. Fest steht jedoch, dass der typische Kausalsatz in unserer Sprache den Unterschied zwischen gleichzeitigem und nicht-gleichzeitigem Geschehen nicht kennt. Und wenn wir unser Weltbild auf kausalen Erklärungen aufbauen, könnten wir damit ganz schön in die Patsche geraten.
Quellen:
¹TEGMARK, Max. The interpretation of quantum mechanics: many worlds or many words? (1997)