In Daniel Kehlmanns Erzählung „Mahlers Zeit“ versucht ein junger Physiker, der Fachwelt seine revolutionäre Theorie zum Wesen der Zeit zu vermitteln. Die Geschichte nimmt wahnhafte, psychotische Ausmaße an und endet tragisch. Momente der Klarheit gibt es dennoch, und in manchen von ihnen lässt Kehlmann seinen Protagonisten jene ominöse Größe namens „Entropie“ sowie den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik erklären. Mir fielen hierbei einige Fehler auf, was ärgerlich ist, denn es lässt vermuten, Kehlmann habe bei seiner Recherche für das Buch lediglich populärwissenschaftliche Literatur zu Rate gezogen, während er bei einem so schwierigen Thema vielleicht einen Fachmann hätte konsultieren sollen. Umso ärgerlicher ist es, weil mir die Erzählung sonst sehr gut gefiel.
Die Irrtümer bestehen in folgenden Aussagen:
- Entropie sei ein Maß für die „Unordnung“ eines Systems.
- Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, welcher im wesentlichen besagt, dass die Entropie eines Systems mit vergehender Zeit nur zunehmen könne, sei das einzige bekannte physikalische Gesetz, welches irreversibel ist.
- Aus dem zweiten Hauptsatz lasse sich schlussfolgern, dass das Universum am Ende seiner Entwicklung dem Wärmetod anheim fallen werde.
Doch warum darüber schreiben? Weil diese Aussagen symptomatisch sind. Sie sind symptomatisch für in diesem Bereich vorherrschendes Halbwissen, für leichtfertigen Umgang mit komplizierten abstrakten Theorien und für gedankenlose Pauschalisierung. Schließlich tauchen diese Aussagen bei Kehlmann nicht zum ersten Mal auf. Es folgen meine Antworten auf obige Aussagen.
1. Entropie ist komplexer
Wenn ich meinen Schreibtisch aufgeräumt habe, hält dieser Zustand leider nicht allzu lange an. Eine Woche später befindet sich kaum noch etwas dort, wo es eigentlich sein sollte. Meine Notizen von Samstagnacht liegen unter dem Zettelberg begraben, wobei ich mir da nicht sicher sein kann, weil ich sie nicht finde; mein Locher liegt nicht mehr in der Schublade mit den Büro-Accessoires; von meinem Textmarker fehlt der Deckel und ich male versehentlich meinen Mietvertrag an. Diesen Zustand bezeichnet man als Unordnung.
Was ich wo hinlege, ist zwar zu keinem Zeitpunkt Zufall. Immer verfolge ich dabei eine bewusste oder unbewusste Ansicht, und wenn sie nur darin besteht, das Blatt in meiner Hand möglichst schnell loszuwerden. Jedoch nähern sich Variablen, die vielen verschiedenen, quasi-statistischen Einflüssen unterliegen, in ihrem Verhalten dem reinen Zufall an, wie er durch die Normalverteilung gegeben ist – das besagt der zentrale Grenzwertsatz. Mit wachsender Zeit wird mein Schreibtisch immer chaotischer. Dabei folgt die Unordnung statistischen Gesetzen. Beseitigen kann ich die Unordnung nur, indem ich Energie investiere und den Schreibtisch aufräume.
Bei allergröbster Vereinfachung werden derartige Alltagsbeispiele herangezogen, um die Entropie dann als quantitatives Maß besagter Unordnung anzuführen. Ihre Einheit ist dabei Joule pro Kelvin, also Energieeinheit pro Temperatureinheit.
Was hat das mit Physik zu tun? Ein physikalischeres Beispiel ist der schmelzende Eiswürfel. Für uns ist es eine ganz alltägliche Erfahrung, dass ein Eiswürfel, der in relativ warmes Wasser gegeben wird, mit der Zeit schmilzt. Doch was passiert dabei auf submikroskopischer Ebene, auf der Teilchenebene?
Nehmen wir an, dass sowohl Eiskristall als auch Wasser aus identischen H2O-Molekülen bestehen. Unterscheiden tun sie sich voneinander dadurch, dass die Moleküle des Kristalls in fester Struktur und Ausrichtung miteinander verbunden sind, in lauter kleinen Sechsecken – der selben Symmetrie, welcher wir bei den winzigen Kristallen begegnen, aus denen Schnee besteht.
Eine Erscheinungsform von Wärme ist die ungeordnete Bewegung von Teilchen (die andere ist elektromagnetische Strahlung). Im Kristall sind die Teilchen weitgehend an ihren Ort gebunden, können aber schwingen und zittern. Im flüssigen Wasser sind die Teilchen nicht fest gebunden und gleiten aneinander vorbei. Sie bewegen sich mit hohen Geschwindigkeiten in alle denkbaren Richtungen, wobei sie Stöße vollführen und so Geschwindigkeit oder Richtung ändern können – im Mittel neutralisieren sich alle Richtungen gegenseitig, sodass wir makroskopisch nichts von der Hektik in unserem Glas bemerken.
An der Grenzfläche zwischen Eis und Wasser stoßen immer wieder Wassermoleküle mit Wucht auf die Oberfläche des Eiskristalls. Dabei werden die dortigen Moleküle in stärkere Schwingungen versetzt, deren Energie sich auch auf die tieferen Ebenen ausbreitet. Der Kristall erwärmt sich und wird gewissermaßen instabiler. Stößt ein Wassermolekül mit genug Wucht auf ein Eismolekül, kann dieses sogar komplett aus dem Kristall gelöst werden und wird fortan ununterscheidbar von den Wassermolekülen sein. Der Kristall schmilzt.
Von dem Kristall ist irgendwann nichts mehr übrig. Die geordnete Struktur des Kristalls hat sich vollständig in die ungeordnete des Wassers verwandelt. Die Unordnung ist somit größer geworden. Die Entropie hat zugenommen.
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Entropie nicht geringer werde könne. Heißt das auch, dass die Unordnung nicht geringer werden könne?
Um eine allgemeine Aussage wie die Äquivalenz von Entropie und Unordnung zu beweisen, reicht es nicht, nur einige Beispiele anzuführen. Um sie zu widerlegen, reicht hingegen bereits ein einziges.
Ein interstellarer Nebel ist, so möchte man meinen, eine ganz schön unordentliche Angelegenheit, bei welcher Teilchen nach Belieben umherwirbeln. Kollabiert der Nebel unter seiner eigenen Gravitation, bildet sich ein Stern, vielleicht auch mehrere, zum Teil mit Planeten, Asteroiden etc. In jedem Fall ist ein Sternsystem – im Altertum Inbegriff der Ewigkeit – aber zweifelsohne eine ordentlichere Angelegenheit als der quer durch den Raum verteilte Nebel. Die Unordnung hat hier also abgenommen. Die Entropie hat trotzdem zugenommen. Entropie kann also nicht Unordnung sein.
Was Entropie genau ist, soll hier nicht erklärt werden – ein interessantes philosophisches Problem stellt der dualistische Charakter der Thermodynamik dar, und ein Text über diesen ließe sich vielleicht mit einer präziseren Beschreibung kombinieren. Ähnlich zur Unordnung wird Entropie manchmal auch als „Unwissen“ über ein System bezeichnet, das heißt, wenn wir das Vorzeichen der Entropie umkehren, landen wir bei „Wissen“. Möchte man vom subjektiven Charakter des Wissens wegkommen, kann man von „Information“ sprechen. Negative Entropie wäre dann Information. Exotische Deutungen wie die Carl Friedrich von Weizsäckers kommen jedoch auch zu gänzlich anderen Schlüssen und deuten die Entropie als „Gestaltenfülle“, gelangen so also von der Auffassung weg, der zweite Hauptsatz besage, dass alles letztendlich im Chaos versinke.¹
2. Der zweite Hauptsatz ist reversibel und unterscheidet sich hierin nicht von allen anderen physikalischen Gesetzen
Wenn ich einem Mitspieler vorsichtig einen Ball zuwerfe, handelt es sich um einen reversiblen Prozess. „Reversibel“ heißt hier, dass sich aus der Raumkurve des Balls, also der Flugbahn, die er beschreibt, nicht auf die Richtung schließen lässt, in welcher der Ball geflogen ist. Auf der Ebene alltäglicher Erfahrung zeigt es sich mir so: Wenn ich das Geschehen filme und später rückwärts laufen lasse, fällt mir nicht unbedingt auf, dass an dem Ereignis etwas faul ist. Mathematisch gesehen sind die Newtonschen Bewegungsgleichungen reversibel, weil sie unter Zeitumkehr invariant sind.
Die Reversibilität der physikalischen Gesetze gilt für alle bekannten Formeln und Formalismen, weshalb die Physik bisher keine Aussage über die Richtung des „Zeitpfeils“ machen kann. Ihr fehlt bisher jeglicher Ansatzpunkt, um zu erklären, weshalb die Zeit von der Vergangenheit Richtung Zukunft läuft, nicht umgekehrt.
Einzige Ausnahme dürfte der zweite Hauptsatz sein, weil er ja gerade besagt, dass die Entropie nur zunehmen, nicht abnehmen könne. Unter Zeitumkehr würde der zweite Hauptsatz eine Abnahme der Entropie beschreiben, würde sich also von der ursprünglichen Aussage unterscheiden und sei damit irreversibel – so eine manchmal zu findende Auffassung.
Doch diese Auffassung ist leider falsch. Der zweite Hauptsatz sagt zwar aus, dass die Entropie nur zunehmen könne, gibt der Zeit hierbei aber noch keine Richtung vor. Starten wir in der Gegenwart, muss die Entropie mit vergehender Zeit zunehmen, aber dabei ist es zunächst unerheblich, ob die Zeit Richtung Zukunft (so, wie es in unserem Universum der Fall ist) oder Richtung Vergangenheit läuft. Denn letztendlich verhalten sich die Teilchen doch nach den bekannten physikalischen Gesetzen, und die sind ja reversibel. Ein einfaches Gedankenexperiment, welches dies veranschaulicht, findet sich im Welt(t)raum.²
3. Es ist schwer, das Universum als Ganzes zu abstrahieren und wir sollten uns besser Unwissen eingestehen, als zu vorschnellen Schlüssen zu gelangen
Die Aufregung um eine mögliche Irreversibilität des zweiten Hauptsatzes ist, wie eben gezeigt, umsonst. Dennoch weist alles darauf hin, dass in unserem Universum die Entropie von der Vergangenheit Richtung Zukunft anwächst. Der schmelzende Eiswürfel ist hierfür ein Beispiel und es ließen sich etliche weitere finden. Damit lässt sich immerhin schlussfolgern, dass das Universum aus einem anfänglichen Zustand sehr niedriger Entropie in einen Zustand hoher Entropie übergehen wird. Der Zustand hoher Entropie wird oft als thermodynamisches Gleichgewicht, als „Wärmetod“ aufgefasst – von Weizsäckers Interpretation mit der Gestaltenfülle steht dem entgegen.
Es ist bekannt, dass wir bei der philosophischen Rede von den ersten und letzten Dingen schnell in Schwierigkeiten geraten. In der Physik ist das aber nicht anders, und wenn man versucht, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf den Kosmos zu übertragen, ergeben sich unleugbare Probleme.
Erstens stellt sich die Frage, wo der anfängliche Zustand niedriger Entropie herkommen soll. Was hat den Urknall verursacht? Hat er sich etwa selbst verursacht? Manche Interpretationen gehen tatsächlich in diese Richtung, indem sie die Entstehung unseres Universums als eine quantenphysikalische Vakuumfluktuation deuten. Die Beantwortung dieser Frage hängt eng zusammen mit der Deutung der Quantenphysik überhaupt.
Zweitens gilt ein Zustand hoher Entropie allgemein als wahrscheinlicher als ein Zustand geringer Entropie. Daraus folgt jedoch, dass die Möglichkeit, dass das Universum eben erst entstanden sei, wahrscheinlicher ist als die Möglichkeit, dass es früher einen Zustand geringerer Entropie gegeben habe. Das bedeutet, es ist wahrscheinlicher, dass die Welt erst vor einer Sekunde entstanden ist als damals mit dem Urknall. Da mein Hirnzustand ein Teil der Welt ist, sind meine Erinnerungen an eine Vergangenheit nur eine zufällige Begebenheit und damit eine Illusion. Jegliche Indizien für eine Vergangenheit, die ich gegenwärtig in der äußeren Welt finde, sind ebenso zufällig. Von Weizsäcker übertrug diese Überlegungen auf die Physiologie und folgerte, dass (unter passenden mathematischen Voraussetzungen) dann sogar die zufällige Entstehung eines Homo sapiens irgendwo im Weltall wahrscheinlicher sein müsste als die Existenz unseres Universums!³
Wo liegen die Denkfehler, welche bei der Anwendung des zweiten Hauptsatzes in der Kosmologie offenkundig irgendwo geschehen müssen?
Ein Fehler besteht möglicherweise in der Annahme, man könne das Ganze, den Kosmos, auf die Summe seiner Bestandteile – physikalische Systeme – reduzieren. Ist der Kosmos ein System? Lässt er sich als physikalisches System beschreiben? Hierbei handelt es sich um eine tiefschürfende physikalisch-philosophische Frage, die schon aus dem Grund nicht einfach zu beantworten ist, dass kaum jemand weiß, was ein physikalisches System eigentlich auszeichnet.
Ein anderer Fehler ist die Interpretation der Zeit als räumliche Koordinate. Zeit ist der fortlaufende Wandel von der Zukunft zur Gegenwart und von der Gegenwart zur Vergangenheit. Zwischen diesen drei Modi bestehen qualitative Unterschiede, welche jedes Mal übergangen werden, wenn in einem Koordinatensystem eine Zeitachse gezeichnet wird, die gedachte Zeit also in den physischen Raum projiziert wird. Dies geschieht in der modernen Physik jedoch nur allzu oft. Bei jeder Zeitmessung dasselbe. Dies geschieht im Alltag nur allzu oft. Unbeeinflusst hiervon bleibt der „Zeitpunkt“ ein abstraktes Konstrukt, Zeit selbst ist unmessbar. Eine umfassende Kosmologie muss dies berücksichtigen.
Drittens muss in einer umfassenden Kosmologie der metaphysische Charakter des Bewusstseins berücksichtigt werden. Wenn dieser vorausgesetzt wird, kann eine nur physikalische Kosmologie schon per definitionem niemals umfassend sein. Entsprechend kann sie auch nichts über die wahrhaft ersten und letzten Dinge aussagen, oder behält hier zumindest nicht das letzte Wort.
Dieser Text enthält kaum Quellenangaben und ist größtenteils aus dem Kopf geschrieben. Alle Angaben ohne Gewähr. Ich verweise jedoch auf den zweimal zitierten „Aufbau der Physik“ von Carl Friedrich von Weizsäcker, der mir viele der erwähnten Fragestellungen näher gebracht hat.
Quellen:
FRÜCHTENICHT, Bengt V. Welt(t)raum. Books on Demand Norderstedt, 2017
KEHLMANN, Daniel. Mahlers Zeit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 11. Aufl. 2016
WEIZSÄCKER, Carl Friedrich von. Aufbau der Physik. Carl Hanser Verlag München Wien, 1985
Einzelnachweise:
¹Weizsäcker 1985, S. 168 ff.
²Früchtenicht 2017, S. 337 f.
³Weizsäcker 1985, S. 153