Was ist der Unterschied zwischen „Sein“ und „Existenz“? Für mich hatte der Begriff „Sein“ immer eine umfassendere, gleichzeitig schwammigere Bedeutung als der letztere.
Einen Erklärungsansatz bietet, wie so oft, die etymologische Recherche: Das Lateinische existere („entstehen, hervortreten“) setzt sich zusammen aus ex („aus, heraus“) und sistere („anhalten, stellen“).¹ Das Existierende ist folglich das Entstehende, Hervortretende, Herausstellende. Die Existenz ist entsprechend das Entstehen (oder Entstanden-Sein), Hervortreten (oder Hervorgetreten-Sein), Herausstellen (oder Herausgestellt-Sein).
„Hervortreten“ – etwas, das jetzt hervor tritt, muss an einem anderen Ort bereits vorhanden gewesen sein.
„Herausstellen“ – etwas, das herausgestellt wird (passiv), oder „was sich herausstellt“ (aktiv), wird nach außen gestellt und war zuvor bereits innen vorhanden.
„Entstehen“ – entstehen ist nur möglich durch Entwicklung, durch Wachstum. Wachstum – wie bei einer Pflanze – ist nur dort möglich, wo der Samen des Keims, die Essenz des Ganzen von Beginn an da war. (Widerlegt diese sprachliche Assoziation bereits die Prämisse des Existenzialismus, dass die Existenz der Essenz vorausgehe?)
„Existenz“ scheint so das sichtbare, das sinnlich-gewordene Sein zu betonen. Beschränkung auf die Existenz bedeutet Beschränkung auf das Offen-Sichtliche, wobei das Verborgen-Unsichtbare unerkannt bleibt und unbewusst sein Unwesen treibt. „Sein“ bezeichnet das Sichtbare und das Unsichtbare gemeinsam, alles was ist, unabhängig davon, ob es bewusst – im Bewusstsein vor-handen, also „vor den Händen“, also herausgetreten, also existent – oder unbewusst ist.
So schließt sich der Kreis. Jedenfalls passen die etymologischen Erkenntnisse (die keineswegs neu sind) zu meinen Empfindungen. Jedenfalls für den Moment.
¹Quelle: Jedes beliebige Latein-Wörterbuch