Zivilisation und Wildnis

Wer sich heutzutage beim Flanieren durch die Stadt bewusst macht, wie wenig Raum der Mensch noch der Natur lässt, bei dem kann sich schnell eine gewisse Misanthropie breit machen. Diese Verachtung für die eigene Spezies bezieht sich dann nicht nur auf Plastikmüll und Chemikalien, auf Smog, Straßenlärm und Lichtverschmutzung, auf unnötigen, jedoch verführerischen Konsumwahn und Ausbeutung der Schwächeren – der Tiere –, sondern auch auf die Missachtung der Schönheit des Unberührten, auf künstliche Parkanlagen, auf die trostlosen Monokulturen der Landwirtschaft, auf die augenscheinliche Entfremdung des Menschen von der Natur und dadurch auch von sich selbst. So zieht es den Betroffenen hinaus in die Wildnis, wo keine Straße brutal in die Landschaft schneidet, wo das Plätschern des Bachs oder das Rauschen des Winds noch die deutlichsten Klänge darstellen, wo der Seele gestattet wird, in einer längst vergessenen Harmonie mit dem Kosmos zu schwingen.

Niemand wird diese Ablehnung in solcher Reinform empfinden, aber als latente romantische Sehnsucht dürfte sie Vielen bekannt sein. Als solche empfand ich sie jedenfalls selbst, als ich das Glück hatte, im vergangenen Herbst und Winter beruflich in Südnorwegen stationiert sein zu dürfen, als Lehrer in einem Naturschulprojekt. Mehrtägige Trekkingtouren durch eine Gegend, die sich tatsächlich noch Wildnis nennen lässt, gehörten dazu. Gewandert wurde oft abseits der ohnehin seltenen Wege über einen felsig-sumpfigen Untergrund, der mit jedem Schritt seine Beschaffenheit wechseln konnte, ohne dass es vorher erkennbar gewesen wäre. Gelegentliches Einsinken und Hinfallen gehörte dazu. Im Winter war dann alles voller Schnee und Eis, die ohnehin kahle Gegend verwandelte sich endgültig in eine Wüste. In meiner Freizeit lief ich oft allein und meditierte über die Erscheinungen der Natur.

Erstaunlich im Sommer und Herbst die Wasserfälle: Vergingen in der regenreichen Region mal einige Tage ohne Niederschlag, versiegten die zahlreichen Sturzbäche an den Felswänden, trockneten teilweise völlig aus. Wenn dann mal wieder gefühlt das Meer vom Himmel regnete, waren sie sofort wieder da, brachen hervor, und das Tal war tagelang vom lauten, gleichmäßigen Tosen dutzender Wasserfälle erfüllt. Die Erinnerung an dieses Naturphänomen, an diesen Zyklus von Versiegen und Durchfluten, hat für mich etwas Traumartiges, als quölle das kühle Nass aus den Brüsten der Natur selbst hervor. Vielleicht ist die symbolische Bedeutung auch im Zusammenhang mit Sexualität zu sehen; jedenfalls steckt in ihr eine unbändige Lebenskraft.

Eine weitere Erscheinung die Bäume: An der Baumgrenze, die im Norden deutlich niedriger als in den Alpen liegt, erscheint das Fjell nicht nur abweisend und leer wie der Weltraum. Die kahlen, sich krümmenden und windenden Fjellbirken tragen auch zu dem Eindruck bei, dass es sich hier um eine Art Vorhölle handelt: Es fehlt ihnen die Kraft, sich zum Licht empor zu heben. Stattdessen ringen sie nach Leben. Das robuste Heidekraut tritt letztendlich als Sieger hervor.

Im Winter schließlich ist auch dieser Lebensrest restlos erstarrt – selbst die Wasserfälle sind gefroren. Gerade deswegen kann es jedoch auch dann noch ein erhabenes Gefühl sein, sich dieser Umgebung auszusetzen. Besonders die Lichtverhältnisse werden beeindruckend. Als ich einmal einen Sonnenuntergang betrachtete, spürte ich das Sterben des Tages wie nie zuvor, wurde von Trauer ergriffen, aber auch von Unterwerfung gegenüber jenen elementaren Mächten, die sich nicht kontrollieren lassen.

sonne_winter

So weit einige Impressionen. Allgemein haben mich neben diesen Erlebnissen vor allem eher praktische Erfahrungen gelehrt, dass es nicht wünschenswert ist, auf Technik und Zivilisation vollkommen zu verzichten. Das Leben in der Natur ist hart und rau. Der Mensch sieht sich vor das Nichts gestellt. Zivilisation ist vielleicht nicht nur der Versuch des Menschen, sich sein Leben möglichst angenehm zu gestalten, sondern sich überhaupt seine, überhaupt eine Welt zu erschaffen. Auf der anderen Seite der Medaille konnte auch die Natur – wie alles Philosophische: ein Begriff – erst mit der Zivilisation entstehen, als deren Negation. Ich bin der Meinung, dass zwischen beiden ein Gleichgewicht zu wahren ist, sofern unser Dasein auf Erden gelingen soll.

 

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