Vor einigen Monaten las ich zum ersten Mal Ludwig Wittgensteins berühmtes Logisch-Philosophisches Traktat. Da fiel mir auf, dass es 2018 seinen hundertsten Geburtstag feiert. Grund genug für einen Blogeintrag, dachte ich mir. Zugegebenermaßen studierte ich bisher keine weiteren Werke dieses sehr speziellen Philosophen, darf insofern als völliger Laie gelten. Andererseits juckt es mich in den Fingern, gerade deswegen meine noch unschuldigen, von eigenen und fremden Interpretationsversuchen einigermaßen ungetrübten Reaktionen einzufangen.
Wittgenstein behauptete dereinst, mit seinem Büchlein von knapp hundert Seiten alle philosophischen Probleme gelöst zu haben (V). Er bemühte sich dabei, streng logisch (und damit tautologisch) vorzugehen und mit möglichst wenigen Prämissen auszukommen: Die Welt sei „alles, was der Fall ist“ (1) und Wittgensteins Meinung zufolge lasse sich alles „[w]as sich überhaupt sagen lässt… klar sagen“ (V), also ohne die verschlungene Sprache der Metaphysik. Unserem Denken legt Wittgenstein somit die Struktur unserer Sprache zugrunde, was für die an die Sprache gebundene Philosophie ein legitimer Ansatz zu sein scheint. Durchstrukturiert ist auch sein gesamtes Werk, das nicht prosaisch, sondern in Form von durchnummerierten, aufeinander aufbauenden Paragraphen angelegt ist.
So drängen sich dem Rezipienten zwei Fragen auf. Die erste: Schafft der ambitionierte Wittgenstein, die Strenge seines eigenen Denkens von vorne bis hinten durchzuhalten? Die zweite: Falls er es schafft: erfüllt er dabei seine absolutistischen Ansprüche, sind also die seiner Methodik zugrundeliegenden Prämissen korrekt?
Wir beginnen mit einem eher wenig bedeutsamen Paragraphen, erkennbar an der Länge seiner Nummer:
3.032 Etwas „der Logik widersprechendes“ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert.
Als ich diesen Absatz las, fiel mir zuerst folgendes paradoxe Gedicht aus dem Volksmund ein:
Dunkel war’s, der Mond schien helle
Schnee lag auf der grünen Flur
Als ein Lastwagen blitzeschnelle
Langsam um die Ecke fuhrDrinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft
[usw.]
Im ersten Moment könnte man meinen, durch dieses Gegenbeispiel Wittgensteins Aussage widerlegt zu haben. Doch dieses Urteil erwiese sich als vorschnell. Das Gedicht stellt in Wahrheit kein Gegenbeispiel zu Wittgensteins Aussage dar, da in dieser nicht die Unmöglichkeit paradoxer Aussagen behauptet wird, sondern die Unmöglichkeit, eine echte Paradoxie sprachlich klar und deutlich zu formulieren. Die Aussage weist auf die Beschränkung unserer Sprache hin, während sie über das, was jenseits der Sprache liegt, gar nichts aussagen soll. Das Gedicht stellt nicht etwas Unlogisches in der Sprache dar, sondern nimmt gewöhnliche, nicht-widersprüchliche Erscheinungen der Welt und fügt sie lediglich unlogisch zusammen. Somit ist die Darstellung unlogisch, aber nicht das Dargestellte: Wir stellen uns entweder eine schneebedeckte oder eine grüne Flur vor, aber niemals eine, die gleichzeitig schneebedeckt und grün ist.
Denkt hier noch jemand an Schrödingers Katze, welche gemäß gängiger Interpretationen der Quantenphysik gleichzeitig tot und lebendig sein soll? Wittgensteins Aussage weist genau auf die Schwierigkeit hin, die wir mit dieser Vorstellung haben.
Ähnlich wie das Gedicht sind Zen-Koans absichtlich paradox formuliert. Diese dürften in ihrem Ausdruck als komplementäres Gegenstück zu Wittgensteins Philosophie gelten. Dennoch widersprechen sie ihr nicht, denn auch Koans sollen auf die Begrenzung unserer Sprache hinweisen und erheben nicht den Anspruch, etwas im Wittgensteinschen Sinne darzustellen. Zen wäre in dieser Hinsicht vereinbar mit Wittgensteins Lehre, genau wie Quantenphysik.
Vor allem letzteres ist hier noch einmal hervorzuheben, da Wittgensteins Buch zur gleichen Zeit entstand wie die genannte Revolution der Physik, die ja immer wieder unser Realitätsempfinden – und damit unsere unausgesprochenen philosophischen Prämissen – herausfordert. Chapeau an Herrn Wittgenstein, dem es gelang, diese Herausforderung bereits im Vorfeld zu meistern! Wittgenstein bietet in dieser Hinsicht eine gehaltvolle Ergänzung zu denjenigen Interpretationen der Quantenphysik, welche Zusammenhänge mit mystischen und fernöstlichen Lehren feststellen wollen. Er bestätigt so Werner Heisenbergs Behauptung, dass nur ein wahrer Konservativer ein wahrer Revolutionär sein könne. [1] Als „konservativ“ darf hierbei Wittgensteins Anwendung der abendländischen, aristotelischen Logik gelten. Das alte Weltbild wird hier nicht überwunden durch Neues, Fremdes, sondern durch konsequenten, kompromisslosen Umgang mit Altbewährtem.
Erst durch diese Kompromisslosigkeit wird klar, dass Naturgesetze prinzipiell keine eigentlichen Erklärungen der Naturerscheinungen sein können (6.371), dass empirische Wissenschaft weniger auf Logik fußt als man annehmen möchte, was Aussagen wie Einsteins „Gott würfelt nicht“ direkt ad absurdum führt. Dabei ist Wittgenstein kein Zerstörer abendländischen Denkens, sondern eben der genannte Bewahrer, der es auf eine Ebene tieferer Selbsteinsicht führt.
Doch Wittgenstein, unser Alle-Probleme-Löser, unser Gott aus der Maschine – auch er ist nicht perfekt. Wenigstens einen unzulässigen Widerspruch meine ich im logischen Verhältnis dreier Paragraphen entdeckt zu haben:
2.04 Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.
2.06 Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit.
2.063 Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt.
Aus 2.06 und 2.063 folgt: Die Gesamtheit der bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalte ist die Welt. Dies erscheint zunächst als Widerspruch zu 2.04, insofern 2.04 den Anspruch erhebt, die Welt umfassend zu erfassen. Es wäre nur dann keiner, wenn Wittgenstein meinte, dass der Satz 2.06 selbst wieder ein bestehender Sachverhalt sei. In diesem Fall würde daraus, dass das Letztere die Welt sei und aus 2.04 jedoch folgen, dass das “gesamte Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten” identisch wäre mit der “Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte”. Würde das also bedeuten, dass Sachverhalte nur in ihrem eigenen Bestehen oder Nichtbestehen bestehen? Ersteres könnte ja noch möglich sein, aber wie könnte ein Sachverhalt in seinem eigenen Nichtbestehen bestehen? Dies wäre nun definitiv ein logischer Widerspruch, und vielleicht ist er nicht der einzige.
Grenzwertige Gebiete – im buchstäblichen Sinn „grenzwertig“, da sie an die von Wittgenstein selbst benannte Grenze der Sprache heranreichen – betritt Wittgenstein vor allem im letzten Kapitel seines Traktats. Hier erhebt er sich dann doch auf eine Metaebene, auf den Blick von außen, der in seiner Philosophie als Blick von einem „ontologischen Ort“ innerhalb der Sprache auf die Sprache selbst unmöglich sein sollte. Diesen darf er sich einzig und allein aus dem Grund gestatten, dass schon sein gesamter vorheriger Text etwas von ihm enthielt, einen unvertilgbaren Rest Metaphysik sozusagen, was nun die Tätigkeit der Philosophie selbst unsinnig werden lässt. Wittgenstein ist sich dessen vollkommen bewusst. Zudem stellt der Schritt in die Unsinnigkeit für ihn ein Happy End dar, da der tautologisch Erkennende so von der Verwirrung seines Verstandes durch die Sprache endgültig befreit werde:
Er [der erkennende Rezipient] muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist. (6.54)
Dieser Satz stellt schon beinahe ein Zen-Koan dar. Eine noch stärkere Ähnlichkeit zum Koan enthält Wittgensteins Satz, dass sein Werk in Wahrheit aus zwei Teilen bestehe – einem geschriebenen und einem ungeschriebenen – und der ungeschriebene Teil der wichtigere sei. [2] Doch wo lässt sich dieser ungeschriebene Teil außerhalb von Wittgensteins Kopf finden? Wohl nur im Herzen desjenigen Lesers, der versteht, dass Sprache nicht nur aus ihrem vordergründigen Inhalt besteht, sondern stets auch einen Subtext enthält, eine Melodie, einen Rhythmus. Laut Claude Debussy sei Musik in Wahrheit der Raum oder die Stille zwischen den Noten. [3] Der Ton macht die Musik. Analog hierzu ist der zweite Teil von Wittgensteins Werk vielleicht das, was zwischen den Zeilen geschrieben steht.
Weitere Ähnlichkeit zu Zen findet sich in des Autors Aussage, dass die Motivation zum Tractatus eine Ethische sei [2] (die Sprach- und Denkanalyse somit kein Selbstzweck ist). Eine der überzeugendsten Meinungen, die ich zum Thema Zen gehört habe, besteht darin, dass das höhere Bewusstsein sich weniger durch Profi-Asketismus als durch ein besonderes ethisches Bewusstsein auszeichne.
Was bei Wittgenstein jedoch fehlt, ist die eigene Einordnung der Philosophie in die Geschichte. Unsere Sprache befindet sich stets im Wandel der Zeit. Was in ihr heute als Wahrheit erscheint, was in ihr Wahrheit ist, muss es deswegen nicht morgen sein – nicht, weil die Wahrheit sich ändern würde, sondern weil sich die Sprache ändert, welche wir benutzen, um ihr nahe zu sein. Ein Blick auf die antiken Philosophen oder in die Bibel reicht, um dies festzustellen.
Für Hegel, der die Geschichte stets als Geschichte des Geistes deutete, stellte die „Negation“ einen wesentlichen Teil seiner Dialektik dar. [4] Wittgensteins Aussagen sind – seiner eigenen Aussage zufolge – tautologisch (6.1) und widerspruchsfrei. Negation und Dialektik deutet Wittgenstein nur mit der schon erwähnten Aussage an, dass der zweite, ungeschriebene Teil seines Werks der wichtigere sei. Das Problem seiner Philosophie ist somit, dass sie statisch ist, dass sie keine Entwicklung zulässt – sie gleicht somit bestenfalls einer Momentaufnahme unserer Sprach- und Denkstruktur. Es ist aber anzunehmen, dass die Philosophen in tausend Jahren die Mängel klarer zu sehen imstande sein werden, als wir es heute tun.
Der statische, tote Charakter von Wittgensteins Philosophie wird auch in folgendem Ausspruch deutlich:
6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.
Meines Erachtens ist alles wahrhaft Mystische auch lebendig. Ein wesentlicher Charakter des Lebendigen wiederum ist aber, dass es sich fortlaufend in Bewegung befindet. Mit Wittgensteins Aussage wird das Sein jedoch auf das bloße Vorhanden-Sein reduziert und damit abgetötet. Das lässt theoretisch noch die Zen-Philosophie zu, jedoch keine echte, schauende Mystik.
Trotzdem gleicht die Lektüre Wittgensteins – zeitgenössisch durchgeführt – einer Katharsis, einer Entschlackung des eigenen Geistes, jener Enthexung, die Wittgenstein wohl erreichen wollte. Danach sollten wir uns aber schleunigst wieder gestatten, dialektisch von vorn zu beginnen und über schrecklich unpräzise Begriffe wie „Leib“, „Seele“ und „Geist“ zu reden, gerne mit Ästhetik, mit Quantenphysik und mystischen Erfahrungen im Gepäck. Die Tabula rasa darf und soll wieder bemalt werden, und zwar in den buntesten Farben!
(Noch ein optionales Fazit zum Schluss: Die Unsinnigkeit der Sprache besteht so lange, wie wir Sprache als endlich ansehen. Als endlich sehen wir Sprache an, so lange wir nur ihren vordergründigen Inhalt sehen. Sinnvoll ist jedoch nur ein ganzheitlicher Umgang mit Sprache, und Ganzheit bedeutet immer Unendlichkeit. Einen solchen Umgang erreichen wir, indem wir den Subtext zulassen, bestehend in seelischen Regungen, in inneren Bildern, die unsere Sprache begleiten, in ihrer Melodie und ihrem Rhythmus. Auch wenn Wittgenstein dies über den zweiten Teil des Tractatus nie gesagt hätte – vielleicht hat er es so gemeint. Und wenn nicht, dann ist es wenigstens meine Meinung, denn auch ein Wittgenstein war nicht perfekt.)
Quellen:
Alle in runden Klammern angegebenen Quellen markieren die jeweiligen Paragraphen oder das Vorwort („V“) des Tractatus logico-philosophicus. Ausgabe:
WITTGENSTEIN, Ludwig; MCGUINNESS, Brian und SCHULTE, Joachim (Hrsg.). Logisch-philosophische Abhandlung – Tractatus logico-philoophicus. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2003
Einzelnachweise:
[1] WEIZSÄCKER, Carl Friedrich von. Aufbau der Physik. Carl Hanser Verlag München Wien, 1985. S. 287
[2] https://philosophischeberatung.berlin/174-2/ (Zugriff am 06.03.2018)
[3] https://en.wikiquote.org/wiki/Claude_Debussy (Zugriff am 06.03.2018)
[4] HEGEL, Georg Wilhelm. Phänomenologie des Geistes. Jazzybee Verlag Jürgen Beck. S. 9